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WM-STORY: Die neue Welt des Haile Gebrselassie

“Du kannst nicht die ganze Welt für immer regieren“, hat Haile

Gebrselassie gesagt.

Zweimal, 1996 und 2000, wurde der inzwischen 30-Jährige Olympiasieger

über 10.000 m, zwischen 1993 und 1999 hieß der Weltmeister über

diese Strecke viermal in Folge Haile Gebrselassie. Bisher stellte der

Äthiopier 16 Weltrekorde auf. Doch zumindest auf den Bahn-Langstrecken ist

Haile Gebrselassie nicht mehr die Nummer eins. Dass er vor zwei Jahren bei der

WM in Edmonton im 10.000-m-Endspurt gegen den Kenianer Charles Kamathi verlor,

lag auch daran, dass er verletzungsbedingt noch nicht wieder in Topform war.

Doch jetzt, bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Paris, wurde

Gebrselassie wieder geschlagen – von einem Landsmann, den er selbst schon

mehrfach als seinen Nachfolger bezeichnet hatte. Es ist sein Trainingspartner

Kenenisa Bekele.

Im fünften Rennen dieser Saison war Gebrselassie zum vierten Mal nicht

Erster. Eine Quote, die ungewöhnlich ist für den Äthiopier.

Über die Bahn-Langstrecken ist die Dominanz des Läufers zu Ende, der

schon in eine Reihe gestellt wird mit den größten Läufern aller

Zeiten, dem Finnen Paavo Nurmi oder dem Tschechen Emil Zátopek Je

zweimal hat er in diesem Jahr gegen den 21-jährigen Kenenisa Bekele und

den zwei Jahre älteren Kenianer Abraham Chebii, der bei der WM die 5000

Meter laufen wird, verloren. “Wenn die zwei rennen, sehen sie so aus wie

ich vor fünf Jahren – sie sind schnell, und das ist normal“,

erklärt Haile Gebrselassie.

Von einer Enttäuschung nach der Niederlage in Paris war bei

Gebrselassie aber nichts zu spüren, er wird damit gerechnet haben.

“Das wichtigste war der komplette Erfolg für Äthiopien“,

sagte der Weltrekordler, nachdem hinter ihm Sileshi Sihen auf den Bronzerang

gelaufen war. “Wir hatten eine Team-Taktik. Und offensichtlich hat sie

gut funktioniert.“ Mitten im Rennen machten die Äthiopier aus einem

gemütlichen 10.000-m-Lauf plötzlich ein hochkarätiges

5000-m-Rennen. Den Konkurrenten von Haile Gebrselassie und Co. muss es

vorgekommen sein, als wären sie plötzlich von einer S-Bahn in einen

ICE umgestiegen. Die zweite Hälfte wurde in 12:57,25 Minuten gelaufen

– das ist eine Weltklassezeit über 5000 Meter und nur rund

zweieinhalb Sekunden langsamer als Dieter Baumanns früherer Europarekord.

Das unglaubliche Tempo forderte prominente Opfer: Der Titelverteidiger Charles

Kamathi gab ebenso auf wie Baumann. Der Tübinger EM-Zweite von

München 2002 erklärte später, er sei nie ins Rennen gekommen:

“Ich habe keinen Rhythmus gefunden.“ Erst auf den letzten 200

Metern ging Bekele an Gebrselassie vorbei und gewann in der Jahresweltbestzeit

von 26:49,57 Minuten.

Siege von Haile Gebrselassie werden seltener, der Respekt ihm gegenüber

ist jedoch ungebrochen. “Es ist ein tolles Gefühl, Hailes Nachfolger

zu sein. Ich widme ihm meinen Sieg“, sagte Kenenisa Bekele. Und Sileshi

Sihen erklärte: “Ich freue mich besonders über Hailes

Medaille.“ Gebrselassie und kein anderer ist der Volksheld in

Äthiopien. Seine Popularität will der Läufer nutzen, um seinen

Landsleuten zu helfen. In einem Athleten-Tagebuch des internationalen

Leichtathletik-Verbandes IAAF schreibt Haile Gebrselassie: “Es wäre

leicht für mich, mein Geld im Ausland anzulegen. Aber ich bin ein

Äthiopier und lebe in meinem Land. Ich möchte den Menschen in meiner

Heimat etwas zurückgeben, die mich so stark unterstützt haben in

meiner Karriere. Ich möchte ein gutes Beispiel geben und hoffe, dass es

andere in der Zukunft auch so machen – es ist eine Investition in die

Zukunft von Äthiopien.“

In der Hauptstadt Addis Abeba besitzt der Vater dreier Töchter ein

Bauunternehmen mit 220 Mitarbeitern. Seine Frau leitet das Unternehmen, wenn er

nicht da ist. “Wenn ich in Europa bin, habe ich weniger Stress. Zu Hause

bin ich andauernd mit der Firma beschäftigt, alle fünf Minuten

klingelt das Telefon“, erzählt Gebrselassie, der mehrere Monate im

Jahr in Holland in der Nähe seines Managers Jos Hermens wohnt. Von einem

Karriereende spricht Haile Gebrselassie noch nicht, doch trotzdem denkt er

schon an die Zeit nach dem Sport. “Ich möchte meinem Land helfen.

Und wenn man etwas verändern will und das Leben der Menschen verbessern

möchte, kann man nicht nur reden. Man muss sich aktiv in die Politik

einschalten.“

Doch vor der politischen Karriere hat Haile Gebrselassie erst noch ein

anderes Ziel: Er möchte den Marathon-Weltrekord brechen. Mit einem Wechsel

zu den längeren Straßenrennen könnte er seine Karriere noch

erfolgreich um einige Jahre verlängern. Bei seinem Debüt in London

wurde er vor eineinhalb Jahren Dritter in der Weltklassezeit von 2:06:35

Stunden. Der Rekord steht bei 2:05:38. “Marathon ist etwas sehr

spezielles, die Atmosphäre ist einmalig. Ich denke, ich kann den Rekord

brechen.“ Die Zeit des Haile Gebrselassie ist noch nicht vorbei.

 

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