Vom Flora London Marathon berichtet Alan Storey:
Die Einführung des ChampionChip-Systems hat sich als unschätzbare
Hilfe bei der Aufdeckung jener Läufer erwiesen, die nicht den gesamten
Marathonkurs absolvieren. Bei der Streckenführung in London ist es ohne
weiteres möglich, einen beträchtlichen Teil abzukürzen, da ein
Straßenabschnitt für beide Laufrichtungen genutzt wird. Zwar hatten
wir stets vermutet, dass eine Reihe von Läufern an dieser Stelle
abkürzten, doch erst seit der Einführung des Chips stehen uns auch
die nötigen Beweise zur Verfügung, um gegen diese bedauernswerten
Personen vorzugehen.
In jedem Frühjahr erstellen wir unmittelbar nach unserem Lauf einen
Ausdruck des Gesamtresultats mit allen 10-km- und Halbmarathon-Zwischenzeiten.
Zusätzlich verlegen wir noch an anderen Stellen Sensormatten: Eine davon
dient unserem offiziellen Fotografen zur Zuordnung der Bilder, während die
andere auf einem Teil der Strecke positioniert wird, an dem die meisten
Schummler nicht vorbeikommen würden. Neben den von den Matten
registrierten Daten können wir auf die Fotos zurückgreifen, die
unsere Fotografen auf verschiedenen Streckenabschnitten geschossen haben. Da
alle offiziellen Fotos mit einem Zeitstempel versehen sind, kann genau
ermittelt werden, wann ein Läufer wo vorbeikam. Falls uns diese Beweise
noch nicht ausreichen, sind an strategischen Punkten entlang der Strecke auch
einige Videokameras im Einsatz, ohne Vorankündigung!
Wir beginnen die Auswertung mit einer Überprüfung der
Zwischenzeiten, um deren Stimmigkeit festzustellen. Dies dauert recht lange,
doch das ChampionChip-System ist glücklicherweise in der Lage,
auffällige Anomalien herauszufiltern, was uns eine große Hilfe ist.
Bei unserer Untersuchung stoßen wir meist auf etwa 60 Fälle, die
einen Betrugsverdacht nahe legen. Im Anschluss daran erbitten wir die
offiziellen Fotos dieser 60 Personen, anhand derer wir dann Schuld bzw.
Unschuld nachweisen können. In der Regel bekommen unsere Fotografen an
jedem Standpunkt über 90 % aller Läufer ins Bild, weshalb fehlende
Bildnachweise unseren Verdacht zusätzlich erhärten.
Nach Auswertung aller Fotos und Zwischenzeiten bleibt zumeist noch eine
Liste von etwa 40 Verdächtigen. Diesen ‚Läufer teilen wir
daraufhin schriftlich mit, dass wir ihren Lauf nicht über die gesamte
Strecke nachvollziehen konnten, und fragen sie zugleich, ob wir bestimmte
Umstände möglicherweise nicht berücksichtigt haben. Meist
erreichen uns dann recht amüsante, doch auch sehr traurige Antworten.
Die Mehrzahl der auf diese Weise Angesprochenen reagiert entweder gar nicht,
da sie keine ehrliche und passende Erklärung vorweisen können, oder
sie führen Argumente an, die keiner Überprüfung standhalten:
"Mein Chip fiel ab, so dass ich ihn in der Hand trug und erst kurz vor dem
Ziel wieder anbrachte" oder "Auf der ersten Hälfte war ich wegen
Seitenstechen so langsam, deshalb brauchte ich für die zweite Hälfte
nur 58 Minuten."
Nach einer angemessenen Zeit finden wir eindeutig heraus, wer die gesamte
Strecke absolviert hat und wer nicht. Jene, die es geschafft haben, erhalten
ihr Foto, während alle, bei denen wir von Betrug ausgehen, von uns ein
Schreiben mit dem Hinweis erhalten, dass sie aus der Ergebnistabelle gestrichen
wurden und sich zukünftig bitte nicht mehr anmelden möchten - in der
Regel betrifft das etwa 30 Personen pro Jahr.
Eine wichtige Frage ist, warum versucht wird zu betrügen. Wir glauben
nicht, dass Läufer sich bereits mit diesem Vorsatz anmelden.
Unser Lauf ist eine großartige Gelegenheit zum Sammeln von Spenden.
Wir wissen, dass die Teilnehmer am London-Marathon im vergangenen Jahr mehr als
25 Mio. £ für verschiedenste gemeinnützige Zwecke gespendet
haben. Die Zahl der Fernsehzuschauer ist riesig, und fast jeder, der das
Ereignis verfolgt, kennt einen der Läufer, der versucht, Spenden für
einen gemeinnützigen Zweck, der ihnen am Herzen liegt, aufzubringen. Auf
den ‚Läufern liegt ein enormer Druck, den Lauf durchzustehen, doch
nur wenige sind aktive Läufer; die meisten sind einfach zu der Erkenntnis
gekommen, dass es höchste Zeit sei, etwas Nützliches in ihrem Leben
zu machen, und haben das Training erst in den letzten Wochen und Monaten vor
dem Wettkampftag, sozusagen im Crashkurs, absolviert.
Im Laufe dieser kurzen, jedoch meist alles andere als schmerzlosen
Vorbereitung kommt es oft zu Verletzungen, oder es stellen sich Beschwerden
oder Krankheiten ein, weshalb Läufer zum Teil noch am Wettkampfmorgen auf
ihren Start verzichten. Wir versuchen, diesen vernünftigen Entschluss zu
erleichtern, indem wir ihnen das Startrecht für den Lauf im
darauffolgenden Jahr reservieren. Dieses Angebot wird von Tausenden
wahrgenommen. Das Problem liegt jedoch bei jenen, die diesen sinnvollen Weg
nicht einschlagen wollen oder erst in der letzten Phase der Vorbereitung auf
Schwierigkeiten stoßen. Mit nur geringen Chancen, das Ziel zu erreichen,
treten sie an den Start und entschließen sich dann unterwegs zum
Abkürzen, wenn der Leidensdruck zu groß wird.
Sind wir dafür verantwortlich, diese Personen aus den
Ergebnisprotokollen zu streichen? Sollten wir die Namen der ertappten
Sünder öffentlich machen, oder sollten wir sie einfach nur aus den
Listen entfernen und es ihnen selbst überlassen, wie sie mit ihrem
Gewissen ins Reine kommen? Ob nun zu Recht oder nicht, wir haben uns für
Letzteres entschieden.
Alan Storey
Race Director
Flora London Marathon