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Das beste Marathondebüt aller Zeiten

Amerikas neue Marathonhoffnung, Deena Drossin, die in Dublin vor drei Wochen

bei der Cross-WM hinter Paula Radcliffe Silber gewonnen hatte, hatte es geahnt.

Die US-Amerikanerin sagte damals: „Paula Radcliffes Marathon-Debüt

wird ein unglaubliches – sie hört nicht auf, mich zu

überraschen.“ Am Sonntag überraschte Paula Radcliffe dann in

der Tat mit ihrem Lauf bei idealen Witterungsbedingungen in London in 2:18:56

Stunden.

Knapp 20 Jahre ist es her, als die kleine Paula Radcliffe beim

London-Marathon an der Strecke stand. Sie bewunderte damals ein Vorbild: Die

Norwegerin Ingrid Kristiansen, die das Rennen insgesamt viermal gewann und 1985

in der britischen Metropole in 2:21:06 Stunden eine Weltbestzeit aufgestellt

hatte. Dass Paula Radcliffe damals Interesse am Laufsport fand und den

London-Marathon als Zuschauerin erlebte, hat sie ihrem Vater zu verdanken. Er

startete zweimal beim London-Marathon. „Das hat mich interessiert. Wir

sind damals mit ihm nach London gereist. Dann sind wir mit der U-Bahn zu

verschiedenen Streckenpunkten gefahren und haben ihn mit Getränken

versorgt“, erinnert sich Paula Radcliffe. „Wenn ich einmal

älter wäre, hat mir mein Vater damals gesagt, dann könnte ich

das auch versuchen.“ Am Sonntag war es soweit – wenn auch zehn

Jahre später als früher einmal gedacht. Die zuletzt beste

europäische 10.000-m-Läuferin gab mit 28 Jahren ihr

Marathondebüt. Und es war das beste, das bisher von einer Frau gelaufen

wurde. Mit 2:18:56 Stunden rannte die Engländerin aus Loughborough die

zweitschnellste Zeit aller Zeiten, verpasste die Weltbestzeit der Kenianerin

Catherina Ndereba lediglich um neun Sekunden und blieb als erste

Debütantin unter 2:20 Stunden. Und noch etwas erreichte Paula Radcliffe:

sie verbesserte den Europa- und den Streckenrekord ihres früheren Idols

Ingrid Kristiansen.

In den Augen der Organisatoren des London-Marathons war Radcliffes Zeit

sogar eine Weltbestleistung, denn bei den Läufen in Berlin und Chicago

starten Männer und Frauen gemeinsam. Seit einigen Jahren lassen die

Londoner die Frauen vor den Männern starten, so dass sie nicht von

Männern als Tempomacher profitieren können. Die schnellste Zeit in

einem reinen Frauenrennen war bislang die Japanerin Eri Yamaguchi gelaufen, die

1999 in Tokio 2:22:12 Stunden erreichte. Die IAAF erkennt zwar nur die Zeiten

der gemischten Rennen an, doch finanziell hat sich die Londoner

Ausnahmeregelung für Paula Radcliffe kräftig gelohnt. Sie kassiert

für ihre Leistung nämlich insgesamt gut 250.000 Euro, darunter

140.000 für die vermeintliche Weltbestzeit.

Zur IAAF-gelisteten Weltbestzeit fehlten jedoch neun Sekunden. „Ich

bekam erst bei 25 Meilen mit, dass ich unter 2:20 laufen kann. Dann habe ich

alles versucht, aber es reichte nicht mehr zum Weltrekord. Das Problem war

auch, dass die Uhr des vorausfahrenden Fahrzeugs ausgefallen war, so dass ich

nicht wusste, dass ich so schnell war und so dicht dran. Es war dumm, dass ich

nicht auf meine eigene Stoppuhr geschaut habe“, erzählte Paula

Radcliffe. „Vielleicht wäre der Weltrekord möglich gewesen,

aber vielleicht wäre ich auch eingebrochen, wenn ich die erste Hälfte

noch schneller angegangen wäre. Der Weltrekord, das ist etwas für

einen anderen Tag. Mit diesem Ziel muss man von vornherein in das Rennen

gehen.“

Es war zu der Zeit, als sie das erste Mal beim London-Marathon war, als sie

in der Schule mit der Leichtathletik begann. Als Elfjährige trat sie dem

Verein Bedford & County bei. Für diesen Klub startet Paula Radcliffe

heute noch, und ihre Trainer sind seit ihrer Kindheit die gleichen geblieben:

Alexander und Rosemary Stanton. Als Betreuer hinzugekommen ist später ihr

heutiger Ehemann, Gary Lough. Den früheren 1500-m-Läufer, der bei der

WM in Göteburg Neunter war, hatte sie an der Universität in

Loughborough kennen gelernt. Diese Uni, an der Paula Radcliffe Französisch

und Deutsch studierte, besuchten in der Vergangenheit eine Reihe von britischen

Laufstars: beispielsweise Sebastian Coe und David Moorcroft.

„Ich habe mich schon früher Jahr für Jahr verbessert –

so wie heute noch“, erzählt Paula Radcliffe von einer

gleichmäßigen Leistungsentwicklung. Die WM in Stuttgart 1993 war

für sie die erste große internationale Meisterschaft im Sommer.

Damals wurde Paula Radcliffe Siebente in jenem 3000-m-Finale, in dem die

Chinesinnen von „Ma’s Armee“ alle Medaillen gewannen.

„Es gibt ein schlechtes Gefühl, aber wir können nichts

beweisen“, sagt Paula Radcliffe zu den Dopingspekulationen über die

Chinesinnen. Die engagierte Anti-Doping-Kämpferin – sie hielt bei

der WM in Edmonton 2001 nach dem Skandal um die positiv getestete, aber

aufgrund eines Formfehlers freigelassene Olga Jegorowa (Russland) während

des 5000-m-Finals ein Schild mit der Aufschrift „Epo cheats out“

(Epo-Betrüger raus) in die Höhe – unterstützt die

Bluttest-Initiative der großen Marathonveranstalter. In London wurden

etliche Athleten in den Tagen vor dem Start kontrolliert. „Erstens kann

der Athlet damit beweisen, dass er sauber ist, zweitens weiß man als

Athlet, dass die Gegner sauber sind, und drittens sehen die Zuschauer einen

sauberen und fairen Sport“, sagt Paula Radcliffe.

Vielleicht hat Paula Radcliffe, die in den französischen Pyrenäen

ein Apartment besitzt und hauptsächlich dort trainiert, am Sonntag die

für sie ideale Disziplin gefunden. Bei den großen 10.000-m-Finals

war sie zuletzt meist die Läuferin, die für das Tempo gesorgt hatte,

aber am Ende ohne Medaille dastand. Vierte war Paula Radcliffe bei der WM 2001,

Vierte war sie auch bei Olympia 2000. Auf der Bahn ist sie die Afrikanerinnen

über 10.000 m nicht los geworden, auf den Straßen von London war das

trotz eines kraftraubenden Alleinganges anders.

 

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