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Das Geheimnis der Temposteigerung

In Kooperation mit RUNNER’S WORLD erscheint hier jeden Monat ein Thema aus dem aktuellen Heft.

Die Ursprünge des kenianischen Tempolaufs liegen 40 Jahre zurück

 

Stellen Sie sich einen einstündigen Trainingslauf vor. Das erste

Drittel wird gemütlich gelaufen, das zweite mittelschnell, das dritte

richtig schnell. Dem gegenüber steht ein einstündiger Trainingslauf:

das erste Drittel schnell, das zweite halbschnell, das dritte

gemütlich. Genau wie beim ersten Mal, nur in umgekehrter Reihenfolge.

Welcher dieser beiden Trainingsläufe wäre der bessere? Gäbe es

überhaupt einen Unterschied? Schließlich wäre man beide Male gleich

lang in jedem Tempobereich unterwegs.


Tempo steigern

Das Training afrikanischer Spitzenläufer gibt einen ersten Hinweis zur

Beantwortung. Nie hat man gehört, dass diese Läufer schnell loslaufen

und dann stark nachlassen. Im Gegenteil. Viele Läufe beginnen gemütlich

wie beim Kaffeeplausch, geraten allmählich ins Rollen, werden schneller

und schneller, bis der Stärkste des Tages ein fast mörderisches

Schlusstempo anschlägt. So trainieren die Kenianer und der Erfolg gibt

ihnen recht. Doch steckt in dieser Dramaturgie mehr als die

Eigendynamik einer starken Trainingsgruppe? Gibt es eine physiologische

Basis für den Erfolg eines progressiven Trainingstempos?


Schnelle und langsame Fasern

Ja, sagt die moderne Sportwissenschaft. Das Geheimnis liegt in der

Mobilisierung der Muskelfasern. In der »Laufmuskulatur« arbeiten die

ausdauernden, sogenannten »roten« (auch ST genannt, Slow Twitch)

gemeinsam mit den schnellkräftigen »weißen« (auch FT genannt, Fast

Twitch) Muskelfasern. Bei mäßiger Belastung werden nur die ST-Fasern

zur Energiebereitstellung herangezogen. Die schnellen FT-Fasern werden

geschont, denn der Körper hebt sie sich für anspruchsvollere Aufgaben

auf. Das kann er aber nur so lange tun, wie die ST-Fasern, die die

Arbeit übernehmen müssen, nicht ermüdet sind.

Schon lange wollte man wissen, was die Muskulatur anstellt, wenn ihr

diese Arbeiter nicht mehr voll zur Verfügung stehen. Dafür griffen

Forscher sogar zu rabiaten Methoden. Bei Probanden auf dem Ergometer

wurden einzelne Muskelanteile gezielt mit Curare betäubt, dem Pfeilgift

der südamerikanischen Indianer, um zu sehen, wie der Rest der

Muskulatur mit dieser Situation klarkommt.


Neue wissenschaftliche Untersuchungen

Neue Untersuchungen einer Forschergruppe vom »Copenhagen Muscle

Research Centre« sind wesentlich schonender und eleganter. Sie ließen

ihre Probanden drei Stunden lang auf dem Ergometer radeln. Angenehm

ermüdet, mussten sie dann eine Nacht lang fasten, bevor der eigentliche

Test begann, welcher denkbar einfach war: 20 Minuten Radeln bei mäßiger

Geschwindigkeit. Bei den Testsportlern wurden vor und nach der

Belastung Muskelbiopsien vorgenommen, was schlimmer klingt als es ist.

Das Ergebnis: Im ausgeruhten Zustand hatten die FT-Fasern nichts zu

tun, die ST-Fasern bewältigten die Arbeit ganz allein. Nach der

Vorermüdung sah es anders aus: bei genau gleicher Belastung kam ein

wesentlicher Anteil der Energie aus den wertvollen FT-Fasern. Bei

unveränderter Intensität wurden die FT-Fasern mit zunehmender Dauer

immer stärker beteiligt.

Die Ergebnisse der dänischen Forscher machen deutlich, dass die

Energiebereitstellung in der arbeitenden Muskulatur eine ganz andere

ist, wenn man ein vorgegebenes Tempo ausgeruht am Beginn eines Laufes

oder nach Vorermüdung in seinem späteren Verlauf anschlägt.


Crescendo-Läufe

Ein langsam begonnener Trainingslauf, der allmählich immer schneller

wird, erzeugt eine Bugwelle an Vorermüdung in den Beinen: bei jedem

Tempo werden Muskelanteile aktiviert, die im ausgeruhten Zustand nur

durch ein deutlich höheres Tempo angesprochen würden. Dies führt zu

einem tiefen Trainingsreiz. Intuitiv haben Athleten und Trainer dies

schon lange erkannt.

Der Dauerlaufpionier Dr. Ernst van Aaken war ein Liebhaber klassischer

Musik. Er benannte Läufe mit stetig steigender Geschwindigkeit

»Crescendo« nach dem Anschwellen der Lautstärke in klassischen

Kompositionen. Sein Schützling Harald Norpoth lief Anfang der sechziger

Jahre im Training regelmäßig scharfe 15 Kilometer über zwölf ständig

beschleunigte Runden auf Sandboden in welligem Gelände. Der Lohn war

olympisches Silber über 5000 Meter 1964 in Tokio. Das war kenianisches

Training noch bevor es die Kenianer kannten.


Trainingsvarianten

Wenn Sie dieses erfolgreiche Rezept selbst ausprobieren wollen,

empfiehlt sich eine geeignete Runde, die Sie mehrmals durchlaufen. Bei

einer Runde von zwei bis drei Kilometern Länge könnte das

Trainingsschema so aussehen: erste Runde gemütliches Einlaufen, zweite

Runde leichtes Anziehen, dritte Runde zügiges Tempo

(Marathon-Renntempo), vierte Runde Forcieren, bis fast Wettkampfgefühl

aufkommt. Fünfte Runde Austraben.


Man kann diese Trainingsvariante auch pulsgesteuert auf einer großen

Runde durchführen. Voraussetzung ist die gute Kenntnis der persönlichen

Trainings-Herzfrequenzen. Ausgehend von der Herzfrequenz an der

anaeroben Schwelle könnte ein progressiver Trainingslauf so aussehen:

20 min Einlaufen, 12 min bei 85 Prozent der Herzfrequenz an der

anaeroben Schwelle, 12 min bei 95%, 12 min bei 100–105%, 10 min

Auslaufen. Die Meister ihres Fachs beschleunigen nicht mehr

schrittweise, sondern steigern ihre Laufintensität über den

Trainingslauf ganz kontinuierlich.


Ralf Milke

Der Autor ist Berliner und läuft seit seinem 13. Lebensjahr Marathon

(Bestzeit: 2:39:22 h). Er forscht und lehrt als Dozent am Institut für

geologische Wissenschaften der FU Berlin.

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