„Ich glaube, so schlecht waren die deutschen Marathonläufer schon
seit Jahrzehnten nicht mehr“, zeigt sich Stephan Freigang zumindest
statistisch sattelfest in einer nüchterner Saisonanalyse. Nicht nur, dass
der frühere Olympiadritte mit seiner gerade vor Wochenfrist in der
portugiesischen Hauptstadt Lissabon erzielten Siegerzeit von 2:14:27 Stunden
sogar noch eine deutsche Jahresbestzeit gelaufen war, sondern auch der Schnitt
der zehn Besten ist mit 2:18:03 seit vielen Jahren unerreicht – im
negativen Sinne. „Natürlich muss ich mich mit einschließen, es
ist einfach nur peinlich!“ Für Freigang war die persönliche
Statistik des nacholympischen Jahres zumindest in der Platzierungsbilanz mit
den beiden Siegen in Leipzig (2:15:57) und nun Lissabon nicht das
allerschlechteste, obgleich er in Frankfurt nach 25 km wegen Wadenbeschwerden
ausgestiegen war. „Natürlich hängt bei uns viel von den
äußeren Bedingungen ab“, versucht Stephan Freigang für
seine Disziplin eine zumindest kleine Lanze zu brechen. „In Lissabon
lagen Julio Rey und ich bis km 30 noch auf einem 2:11:30-Kurs, aber mit
Gegenwind nach der letzten Wende verlierst du schnell vier, fünf Sekunden
pro Kilometer. Mir war letztlich der Sieg wichtiger als eine Endzeit, die bei
aller Anstrengung dann doch über der EM-Norm gelegen hätte!“
In den Analen des deutschen Marathons Ost wie West gibt es keine Parallele
ob des leistungsmäßigen Tiefststandes, dazu standen die Eich,
Dobler, Peter, Steffny, Salzmann oder selbst Freigang als Jahresbester 1996,
1995 und 1993 auch international platziert in den Ranglisten, wenngleich
Tendenz absteigend. Nicht nur die Spitze war abgebrochen, sondern auch die
Breite. Im Durchschnittswert der zehn besten Deutschen liegt das gerade
zurückliegende Jahr mit 2:18:03 um Längen zurück hinter dem
besten Wert von 2:12:43 aus dem Jahr 1990. Im Klartext heißt dies
zumindest aber auch, dass der Zehnerschnitt oftmals noch besser war als
Freigangs Jahresbestmarke von 2:14:27 Stunden.
„Ich muss für mich persönlich einen Schnitt machen. Und
dieser kann nur heißen, entweder schneller trainieren oder richtig
Umfänge machen!“ zieht Freigang die Konsequenzen für das
EM-Jahr. Im Verbund mit Heim- und Bundestrainer Wolfgang Heinig möchte er
es zumindest im kommenden Jahr noch einmal wissen. „Ich bin ehedem ein
Typ mit viel Umfangskilometer. In den früheren Vorbereitungen mit Trainer
Bittermann bin ich schon das eine oder andere Mal 300 Wochenkilometer gelaufen.
Aber eben nicht konsequent. Vielleicht muss man es ähnlich wie Naoki
Takahashi machen!“ Die in Berlin Weltbestzeit gelaufene Japanerin hatte
mit der Veröffentlichung ihrer Trainingspläne die Fachwelt mit
kontinuierlichen Wochenumfängen von 350 geschockt und ihre Erfolge mit
Olympiasieg und Weltbestzeit daraus abgeleitet. Von derartigen Umfängen
kann Carsten Eich, der Spitzenreiter der Jahre 1999 und 1998 mit einer
persönlichen Bestmarke von 2:10:22 Stunden, nur träumen. Er ist
ehedem nicht der Typ zu großer Umfänge. Im Verbund mit Trainer Axel
Krippschock ist der 31jährige Fürther, der künftig das Trikot
der LG Braunschweig tragen, aber seinen Lebensmittelpunkt nach wie vor im
Fränkischen haben wird, derzeit mit Bedacht dabei, den
Trainingsrückstand nach der Schleimbeuteloperation wieder aufzuholen.
Neben täglichen Dauerlauf-Einheiten packt Carsten Eich derzeit noch einige
Aquajogging- und Radeinheiten drauf, um sich letztlich mit einer guten
Frühjahrsleistung für einen EM-Start in München zu
empfehlen.
Neben dem verletzungsbedingten Ausfall von Carsten Eich schwächelte
aber auch mit Michael Fietz der andere vermeindliche Leistungsträger. In
Köln ebenso auf 2:11er Kurs wie drei Wochen später in Frankfurt, die
Resultate für den Wattenscheider sind letztlich kümmerlich
ausgefallen. Wadenprobleme brachten den nach seinem Frankfurter Marathonsieg
1997 in 2:10:59 schon als neue Marathonhoffnung apostrophierten Fietz stets von
der Rolle. Ende Oktober lief er zumindest durch – und wurde in
undiskutablen 2:16:28 in Ermangelung leistungsstarker Konkurrenten sogar noch
deutscher Meister. „Das ist das positive an diesem Jahr“, blickt
Trainer Tono Kirschbaum zurück, „er war zwar oftmals platziert, aber
noch nie deutscher Meister!“ Michael Fietz ist mit nunmehr 34 Jahren
längst im richtigen Marathonalter, wären da nicht die stetigen
Rückenprobleme, die letztlich die Laufmuskulatur gerade in der
Schlussphase stark beeinträchtigen. „Ich hoffe, dass wir dies im
Laufe des Winters in den Griff bekommen!“ Denn im Frühjahr
möchte Michael Fietz noch einmal angreifen – in Rotterdam. Dort, wo
der Wattenscheider im Olympiajahr als Zwölfter in 2:11:28 den Weg nach
Sydney ebnen konnte. „Auch wenn es immer ein superschnelles Rennen wird,
hat Michael diesen Marathon in bester Erinnerung, weil dort einfach alles
stimmt!“
TVW-Coach Tono Kirschbaum wird voraussichtlich nicht alleine mit Michael
Fietz nach Rotterdam reisen, denn mit Sebastian Bürklein steht ein
weiterer leistungsstarker Läufer in seiner Gruppe, der allerdings nach
seinem klasse Marathondebüt 1999 in Frankfurt noch Novize auf dieser
Distanz ist und bei seinem zweiten Start am Main schmerzlich Lehrgeld zahlen
musste. „Bedingt durch einen Infekt konnte Sebastian erst spät in
die Marathon-Vorbereitung einsteigen, sodass ihm einfach die entsprechenden
Umfänge fehlten. Vier bis sechs Wochen haben letztlich einfach gefehlt,
sonst hätte er am Schluss nicht einen derartigen Einbruch gehabt und den
Meistertitel gegen Michael noch verloren!“ glaubt Tono Kirschbaum.
Deutschlands Marathon-Männer auf einen Blick:
Ein katastrophales Jahr für die marathonlaufenden deutschen Männer.
Der frühere Olympiadritte Stephan Freigang ist mit seinen Siegen in
Leipzig (2:15:57) und Lissabon (2:14:27) die beiden (!) schnellsten Resultate
hier zu Lande gelaufen. Carsten Eich verabschiedete sich vorzeitig in Hamburg
und steht nach einer Schleimbeuteloperation im Sommer heuer sogar ohne jegliche
Leistung dar. Aus den gewiss nicht schwach besetzten Titelkämpfen im
Rahmen des Euro Marathon in Frankfurt ging Michael Fietz mit international
unbedeutenden 2:16:23 noch als Bester hervor, nachdem er drei Wochen zuvor in
Köln seine auf eine 2:10er Endzeit angelegte Fahrt nach 33 km vorzeitig
abbrechen musste – und durfte sich immerhin mit der ersten nationalen
Meisterschaft trösten. Novize Sebastian Bürklein büßte am
Main in seinem zweiten Marathon nach unzureichender Vorbereitung auf den vier
letzten Kilometern. Von den jüngeren Läufern konnte sich weder
Maximilian Bahn (2:20:21) noch Volker Fritzsch (2:27:43) für die nahe
Zukunft empfehlen, beide gingen in der Frankfurter Regenfront keineswegs
gestärkt heraus. Die ersten Versuche von Marc Ostendarp (2:18:15) und
Jörn Wagner (2:19:03) dürften gewiss nicht die letzten gewesen sein,
aber hieraus schon Perspektiven abzuleiten, das wäre verfehlt.
2:13-Läufer Uli Steidl setzte auf Berlin, blieb aber dort mit 2:19:01
unter Wert.
-Wilfried Raatz (wira)
(aus LA 50/01)