Haile Gebrselassie ist im letzten Jahrzehnt zu den Legenden des
Langstreckenlaufes aufgestiegen: Paavo Nurmi, der Finne, der bis Anfang der
30er Jahre 35 Weltrekorde aufstellte, steht vielleicht ganz vorne in dieser
Reihe. Emil Zatopek, der Tscheche, der 1952 bei Olympia in Helsinki Gold
über 5000 m, 10.000 m sowie im Marathon gewann, gehört ebenso wie
beispielweise Ron Clarke (Australien), der wie Zatopek 18 Weltrekorde
aufstellte, dazu.
Im Vergleich mit Emil Zatopek fehlt Haile Gebrselassie, der bislang 15
Weltrekorde aufgestellt hat, vor allen Dingen eines: der Marathon. Dieses
Kapitel beginnt für den Äthiopier am Sonntag in London. Als
15-Jähriger ist Haile Gebrselassie schon einmal die klassischen 42,195
Kilometer gelaufen. In der dünnen Höhenluft von Addis Abeba rannte er
dabei bemerkenswerte 2:48 Stunden. „Ich bin damals nur gelaufen, um mir
die Stadt anzusehen. Ich hatte noch nie so hohe Häuser gesehen.“
Sein erster ernsthafter Marathon wird der am Sonntag in London sein. Es ist ein
lange erwartetes Debüt, auf das Haile Gebrselassie vor einem Jahr in der
Folge einer Operation an der Achillessehne verzichten musste. Der Marathon ist
die letzte große Herausforderung des Haile Gebrselassie. Und der
28-Jährige denkt deswegen auch an die Olympischen Spiele 2004 in Athen,
nachdem er über 10.000 m bereits zweimal olympisches Gold gewonnen
hat.
Mit längeren Straßenläufen hat Haile Gebrselassie im letzten
Jahr Erfahrungen gesammelt. Auf Anhieb wurde der Äthiopier in Bristol im
Herbst Halbmarathon-Weltmeister und erzielte mit hervorragenden 60:03 Minuten
die zweitschnellste Zeit des Jahres. Mit Hilfe eines englischen Sponsors
realisierte er im November einen Traum: einen 10-km-Straßenlauf in Addis
Abeba. Binnen weniger Stunden soll sich das Feld von 10.000 Läufern in die
Startlisten eingetragen haben. Es war die einmalige Gelegenheit für die
Äthiopier in einem Rennen mit ihrem Volkshelden laufen zu dürfen.
Eine halbe Million Menschen säumten die Straßen. Fast hätte es
für Haile Gebrselassie ein Desaster gegeben. Denn als Co-Organisator
musste er kurz vor dem Start per Lautsprecher die Läufermassen beruhigen,
um einen Fehlstart zu vermeiden. Kurz darauf an der Startlinie stehend,
stolperte er und fiel, als es losging. „Ich kam schnell wieder auf die
Beine“, erzählt Haile Gebrselassie. „Ich habe nicht panisch
reagiert, aber im Hinterkopf wusste ich natürlich, dass mich das Feld
hätte zertrampeln können.“ Am Ende gewann der Olympiasieger.
Das Ziel war in der Haile-Gebrselassie-Allee.
Derartige Schrecken werden ihm am Sonntag in London erspart bleiben. Die
Eliteläufer sind bei den großen Rennen gut abgeschirmt von den
Breitensportlern. Haile Gebrselassie kann sich vollkommen auf das Laufen
konzentrieren. Es gibt nicht wenige, die dem Äthiopier zutrauen, die
Marathon-Weltbestzeit auf unter 2:05 Stunden zu schrauben. Noch hält
Khalid Khannouchi (USA), der am Sonntag ebenfalls am Start sein wird, mit
2:05:42 diese Bestmarke. „62 Minuten für die erste Hälfte ist
nicht so schnell“, sagt Haile Gebrselassie und denkt dabei an neue
Dimensionen. Paavo Nurmis Weltrekordanzahl wird Haile Gebrselassie zwar ebenso
nicht mehr erreichen wie den olympischen Dreifach-Triumph des Emil Zatopek.
Doch weder Nurmi noch Zatopek hielten jemals eine Weltbestzeit im Marathon.
„Viele Leute wollen einen Weltrekord in London sehen. Wenn es
möglich ist, werde ich versuchen, diese Erwartungen zu
erfüllen.“ Ein taktisches Rennen scheint angesichts der Konkurrenz
aber eher wahrscheinlich als ein Tempo-Alleingang des Äthiopiers, zumal
Haile Gebrselassie über seine Gegner auch sagt: „Ich denke nicht an
einen bestimmten Läufer. Ich beobachte den, der führt. Wenn es Paul
Tergat ist, folge ich ihm. Denn im Marathon weiß man nie, wer der beste
ist.“