„Da kommen die Silberpfeile“, frotzeln zwei Skater, die sich die
superschnellen 5-Rollen-Blades unterschnallen. Normalität unter Sportlern
auf der „Krone“, dem Kronprinzessinnenweg neben der Avus. Sie
meinen die Rennrollstuhl-Fahrer, die sich hier ebenfalls auf den real,-
BERLIN-MARATHON vorbereiten. Einer von ihnen ist ein Anfänger, der die
klassische Strecke von 42,195km das erste Mal fahren will.
Sirko Wehr
sitzt seit seinem Unfall vor drei Jahren wegen einer Querschnittlähmung im
Halsbereich im Rollstuhl. Laufen kann er nicht mehr, Beine, Rumpfmuskulatur und
auch Partien der Hände sind gelähmt, aber die Arme sind
funktionsfähig – also ein typischer „Teddy“, ein
Tetraplegiker, wie die Medizin die Situation beschreibt. Nicht eben
muskelbepackt, aber das gehört zur Statur des 27-Jährigen und –
wie gesagt – er ist ein Anfänger. 30 bis 40 km trainiert er in der
Woche, sicher ein gutes Maß. Beeindruckend ist die kurze Zeit nach dem
Unfall, nach der er sich den Marathon zutraut. Das will er sich beweisen.
Blickt man auf die Geschichte des Rollstuhlmarathons, wird das besonders
deutlich. Der Amerikaner Bob Hall war es 1974, der mit seiner Pioniertat
nachwies, dass es auch im Rollstuhl möglich ist, aus eigener Kraft die
klassische Marathonstrecke zu bewältigen. Zu dieser Zeit war das etwas
völlig Außergewöhnliches, schließlich waren die
gehunfähigen Opfer von Unfällen, Krieg und Krankheit im medizinischen
Sinne Dauerpatienten und nicht gehalten, den Rest ihrer Gesundheit mutwillig zu
strapazieren. Der Rehabilitationssport begnügte sich mit sehr bescheidenen
Ansprüchen, deren Umfang der Arzt festlegte und warnend den Zeigefinger
hob, wenn unangemessene körperliche Anstrengungen registriert wurden. Aber
ungehorsame Patienten wollten das für sich nicht akzeptieren. War es doch
eine neue, ganz natürliche Herausforderung, eben das durch Lähmung
oder Amputation begründete Defizit der körperlichen
Leistungsfähigkeit auszuloten und die Grenzen möglichst weit
hinauszuschieben. Und andererseits, warum sollte es dem Behinderten verboten
sein, auch gegebenenfalls Risiken in Kauf zu nehmen, wie sie jeder
Leistungssportler für sich ganz selbstverständlich akzeptiert?
Inzwischen wissen es Medizin und Sportwissenschaft besser.
Mit Sport hatte Sirko Wehr vor seinem Unfall eigentlich nichts zu tun.
Schulsport ja, auch in sogenannten Arbeitsgemeinschaften, aber dort war es
immer interessanter, mit den Leuten quatschen zu können. Leistung? Nein,
nie. Das war einfach absurd. Ernst wurde es erst nach dem Unfall. In der
Berlin-Marzahner Unfallklinik ist Sport integrierter Bestandteil bei der
Rehabilitation Querschnittgelähmter. Erhalt der Beweglichkeit sowie
Muskel- und Koordinationsschulung bei der Umstellung auf die Bewegung in einem
Rollstuhl. Ohne professionelle Anleitung dauerte das früher viele Jahre.
Ein Bruch in diesem physiologischen Aufbau kommt dann oft mit der Entlassung
aus der Klinik. Das soziale und berufliche Umfeld muss angepasst gestaltet
werden, für Sport bleibt da wenig Zeit. So auch bei Sirko, dem
Diplom-Bauingenieur, für den es nicht eben leichter geworden ist, eine
angemessene Arbeit zu finden. Erst seine ambulante Physiotherapeutin
drängte ihn schließlich, körperlich aktiver zu werden. Der
Sportlehrer Bodo Heinemann aus der Unfallklinik vermittelte ihn an die
Rennstuhlfahrer des SC Charlottenburg, dem Mutterverein des real,-
BERLIN-MARATHON. Hier bekam er dieses Sportgerät geliehen, Sitzposition,
Spezialhandschuhe und Bewegungsablauf wurden unter Anleitung probiert und
optimiert und seit dem Frühsommer 2001 trainiert Sirko Wehr nun
regelmäßig.
Es läuft bereits recht gut. Geschwindigkeit und Ausdauer reichten am 7.
April zum Halbmarathon in gut 1:30 Stunden. Ja, es ist einerseits die
Befriedigung des Bewegungsdranges, die Freude an der Geschwindigkeit aus
eigener Kraft, erklärt er seine Motivation, aber auch Gesundheit,
Körperschulung und Kameradschaft gehören dazu – alle
glücklichen Synergien, wie sie der Sport in sich trägt. Probleme mit
der geringeren Leistung gegenüber seinen austrainierten Sportkameraden hat
er nicht. Das sei doch normal, meint er. „Das haben sie sich
schließlich in den Jahren verdient, mir fehlen die Kilometer –
noch.“
Unter den mehr als 100 Rennstuhlfahrern des real,- BERLIN-MARATHON sind in
jedem Jahr etwa 10 Prozent, die das erste Mal einen Marathon fahren. Die
Bedingungen bei diesem Stadtmarathon sind besonders gut geeignet.
Streckenverlauf, spezielle Angebote im Service für die Rollis und die zur
Verfügung stehende Zeit ermöglichen auch bei geringerer
Geschwindigkeit das Ankommen. Und ankommen will Sirko Wehr mit der Startnummer
R215 am 29. September. Über sportliche Perspektiven denkt er später
nach. Eines nach dem anderen. Von den Rennstuhlfahrern wird er einer der
Letzten sein, die das Ziel erreichen, das weiß er und akzeptiert es.
Reiner Pilz