Am 25. September veröffentlichten wir hier einen Bericht über
Klaus-Dieter Knapp, der an einer inkompletten Querschnittslähmung leidet.
Er hat die Jubilee-Nummer "605" - nahm zum 19-mal am real,-
BERLIN-MARATHON teil und komplettierte jetzt seine "Sammlung" mit der
17. erfolgreichen Teilnahme am BERLIN-MARATHON. Das Team vom real-
BERLIN-MARATHON gratuliert ihm herzlich - und sicherlich auch alle
Läuferinnen und Läufer zu seiner bewundernswerten Leistung.
Die engagierten Helfer am Start kümmern sich rührend um mich. Die
Chipmatten werden extra für mich eingeschaltet. Es ist 08.30 Uhr. Ich
laufe los. 15 Minuten vor den Rollis, 30 Minuten vor dem großen
Läuferfeld. Bekomme sogar ein eigenes Führungsfahrzeug mit, ein
Fahrrad. Der freundliche Fahrer geleitet mich sicher bis zum Großen
Stern, vorbei an Wowereits Dienstkarosse, sich warm machenden Rollis und
Spitzenläufern, vorbei an zahlreichen Veranstalter- und Polizeifahrzeugen.
Dann bin ich ganz alleine auf der Strecke des 30. real,- BERLIN-MARATHON, seit
19 Jahren in Folge mein Saisonhöhepunkt . Zwischen Ernst-Reuter-Platz und
Gotzkowskybrücke rasen die Rollstuhlfahrer an mir vorbei. Das berührt
mich tief. Viele Gedanken und Gefühle ergreifen mich auf diesem
Streckenabschnitt. Es ist 1990. "Machen Sie noch einen Termin wegen des
Rollstuhls", sagt mir eine Kapazität unter den Neurologen. Ein
gutartiger Tumor in meinem Rückenmark hat eine inkomplette spastische
Querschnittslähmung verursacht. Und die ist irreversibel, also
lebenslänglich. Als begeisterter Marathonläufer soll ich mich in den
Rollstuhl setzen? Dazu fühle ich mich zu gesund und will erstmal dagegen
ankämpfen. Mit viel Training maßte man doch auch als stark
Gehbehinderter einen Marathon zu Fuß schaffen! Und das klappte dann
tatsächlich meist auch, nur zweimal war mir der Besenwegen zu nah und
Besenwagennähe macht Streß und Stress verstärkt die Spastik und
mit Spastik geht und läuft gar nichts mehr. Um diese Besenwagennähe
zu vermeiden, durfte ich als Einzelstarter bereits um 8.30 Uhr loslaufen. Ein
beruhigendes Zeitpolster bei meinen Marathonzeiten der letzten Jahre, 5:42 -
7:33 Std. je nach Zustand von Lähmung und Spastik. Und Jetzt sehe ich
diese vielen Rollstühle an mir vorbeiziehen, Rollstühle, denen ich
seit nunmehr 13 Jahren erfolgreich weglaufe. Kaum fassbare Gefühle. Sind
das Freudentränen? Ich weiß es nicht.
In Moabit bin ich wieder ganz allein auf der Strecke, die Rollis sind durch,
die Läuferspitze noch nicht da. Die Zuschauer feuern mich heftig an. Sie
verstehen offensichtlich, daß dieser humpelnde Startnummernträger
nicht etwa schummelt oder sich verlaufen hat, sondern eher zu den Rollis
gehört. "Heute wohl ohne Rollstuhl?" ruft mir einer zu, ein
anderer: "Invalidenstart, wa?" Auch am ersten Getränkestand
wundert sich niemand über den einzelnen Läufer, alles läuft
problemlos, nur einmal schickt mich ein Motorradpolizist auf den Gehweg, weil
er meint, ich gehöre nicht zum real,- BERLIN-MARAHTON, holt mich aber mit
einer Entschuldigung sofort nieder auf die Fahrbahn zurück, als er seinen
Irrtum bemerkt. Am Kanzleramt fliegt die Läuferspitze an mir vorbei, Horst
Milde grüßt mich aus dem Führungsfahrzeug, ab nun gilt es,
möglichst weit weg von der blauen Linie zu laufen, um die deutlich
schnelleren nicht zu behindern. Die Läufermasse schwillt von Minute zu
Minute an, In Kreuzberg Ist die Strecke voll und ich bin nicht nur dabei,
sondern mittendrin, fühle mich trotz Behinderung integriert In den Lauf
und habe mehr als einmal einen Kloß im Hals. Alles läuft prima und
ich liege auf Bestzeitkurs für die letzten 7 Jahre (5:42), aber ab Rathaus
Schöneberg verstärkt sich die Spastik, trotz Anstrengung fällt
des Tempo, die zweite Hälfte wird deutlich langsamer als die erste. Aber
egal, ich genieße trotzdem die einmalige Atmosphäre des 30 real,-
BERLIN-MARATHON und freue mich, dass mich der Besenwagen durch den
Frühstart nicht jagt und ich so keine spastischen Stressanfälle
befürchten muss.
Ich fühle mich wohl und weiß auch wieder, wofür ich bis zu
15 Stunden pro Woche trainiere. Zunächst für den
Frühjahrshöhepunkt, den 12-Stunden-Ultralauf in Brühl, der nach
meiner Kenntnis als einziger Lauf in Deutschland eine eigene Behindertenklasse
eingerichtet hat. Und eben für diesen BERLIN-MARATHON. Mit viel Training
sind diese Läufe euch für einen Behinderten gut zu überstehen.
Und genau dieses Training ist es, was mich dann auch im Alltagsleben auf meinen
eigenen Beinen stehen lässt, was mich seit 13 Jahren dem Rollstuhl
erfolgreich weglaufen lasst. Und nun genieße ich den BERLIN-MARATHON als
Sahnehäubchen des Trainingsjahres. Gegen Ende des Laufs dünnt das
Läuferfeld wieder aus, ich werde nur noch langsam überholt, die
ersten Walkergruppen ziehen an mir vorbei, ich bin eben nun mal nicht
schneller. Unter den Linden habe ich noch genügend Kraft und Luft
übrig, aber heute verhindert die Spastik das Abrufen der restlichen
Reserven. Macht nichts, gibt schlimmeres. Noch 6:11 Std. endet mein 52.
Marathonlauf, zum 17. Mal bin ich im BERLIN-MARATHON Ziel. Vor dem Tumor habe
ich nur gut halb so viel Zeit gebraucht, mit weniger Training und Anstrengung.
Trotzdem bin ich glücklich im Ziel. Der Lauf hat mir wie immer Freude
bereitet, auch wenn ich von mehr als 30.000 Läufern überholt worden
bin.
Mein herzlichster Läuferdank geht an Horst Milde, Dr. Willi Heepe und
alle beteiligten Helfer für den Extra-Service durch den Einzelstart. Freue
mich auf den nächsten real.- BERLIN-MARATHON 2004, hoffentlich wieder mit
"lnvalidenstart" und dort stehe ich ja denn vielleicht auch nicht
mehr als einziger Behinderter.