Wilson Kipketer wurde in Sevilla zum dritten Mal in Folge Weltmeister über
800 m. Seit 1997 ist er mit 1:41,11 Minuten auch Weltrekordler über diese
Distanz. Nachdem der aus Kenia stammende Läufer, der seit 1997 die
dänische Staatsbürgerschaft hat, im vergangenen Jahr an Malaria
erkrankte und anschließend eine Lugenentzündung erlitt, schaffte der
28-Jährige in diesem Jahr mit dem WM-Titel und dem Gewinn des
Golden-League-Jackpots ein eindrucksvolles Comeback.
Viele kenianische Weltklasseläufer sind zum Rennen gekommen, weil sie
täglich lange Wege zur Schule laufen mussten - Daniel Komen, Moses
Kiptanui oder Tegla Loroupe. Bei Ihnen war es anders.
Kipketer: Ja, das ist diese Geschichte. Die Leute denken, weil einige
kenianische Läufer als Kinder zur Schule gerannt sind, ist das bei allen
so. Aber in Deutschland müssen gute Fußballer ja auch nicht neben
einem Fußballplatz aufwachsen. Also, es gibt auch Kenianer, die neben der
Schule wohnten. So war es bei mir, ich brauchte nicht laufen, ich wohnte
nebenan. Es gibt Kinder, die sehr weit zur Schule laufen müssen und
trotzdem keine Läufer werden. Andererseits gibt es auch in Kenia Kinder,
die mit dem Auto zur Schule gefahren werden und trotzdem schnell laufen
können. Der Schulweg ist nicht so wichtig, entscheidend ist das
Talent.
Wie wurde Ihr Talent entdeckt?
Kipketer: Ich bin schon in der Grundschule bei Wettkämpfen
für die Schule gelaufen. Bereits damals sind wir 800- und
1500-m-Wettkämpfe gerannt oder auch eine Staffel über 2,5 km.
Sie waren in der in Kenia berühmten St. Patrick's School, aus der
viele Weltklasseläufer hervorgegangen sind. Es heißt, Sie wurden
damals nur aufgenommen, weil Sie sich bereit erklärten, in den Ferien das
Schulgebäude zu streichen - stimmt das?
Kipketer: Das ist einerseits richtig, andererseits falsch. Es ist
eine sehr lange Geschichte, die den Rahmen dieses Interviews sprengen
würde.
Schon mit knapp 18 Jahren kamen Sie nach Dänemark, wie kam das?
Kipketer: Eine Gruppe dänischer Läufer kam nach Kenia. Und
sie fragten mich, ob ich für ihren Klub Kopenhagen IF starten würde.
Ich ging zum Studium nach Dänemark. Es hat allerdings einige Jahre
gedauert, bis ich die Sprache konnte.
Sie sind inzwischen Däne, haben eine dänische Freundin und leben
in Kopenhagen - andere Läufer ziehen in die ständige Wärme oder
in die Höhe, um zu trainieren.
Kipketer: Wichtig ist, dass das Umfeld stimmt. Höhentraining ist
für mich nicht wichtig, obwohl ich auch manchmal in der Höhe
trainiere und aus Kapsabet komme, das rund 2100 Meter hoch liegt. Aber mit dem
Höhentraining, das ist wie mit vielen Geschichten. Wenn man schlecht
läuft, kann man nicht in die Höhe fahren, dort trainieren und denken,
jetzt wird man automatisch gut. Höhentraining gibt einem keine
Extra-Energie. Sebastian Coe oder Peter Elliott haben früher auch nicht in
der Höhe trainiert und waren sehr erfolgreich. Das zeigt, dass es auf das
Talent ankommt und wie man trainiert.
Wie trainieren Sie, laufen Sie gar nicht mehr in der Höhe?
Kipketer: Das ist ganz unterschiedlich. Mein Trainer Slavomir Nowak,
der in Polen lebt, gibt mir die Programme vor, und in wichtigen Trainingsphasen
ist er immer dabei. Es gibt unterschiedliche Ansätze, ich trainiere
zwischen ein- und dreimal täglich und manchmal auch in der Höhe.
Sie haben Sebastian Coes 800-m-Weltrekord 1997 verbessert. Haben Sie damals
vor rund 20 Jahren seine Läufe verfolgt, und haben Sie ihn inzwischen
getroffen?
Kipketer: Ich möchte ihn gerne treffen, aber es hat bisher noch
nicht geklappt. Als Sebastian Coe seine Weltrekorde lief, war ich noch zu
klein, als dass ich mich wirklich dafür interessieren konnte.
Außerdem hatten wir keinen Fernseher. Später habe ich von seinen
Läufen gehört.
Sie haben sich im Januar 1998 mit Malaria infiziert. Haben Sie jetzt Angst
vor Reisen nach Kenia, wie oft sehen Sie Ihre Familie?
Kipketer: Natürlich besuche ich weiterhin meine Familie, ich
sehe sie etwa einmal im Jahr in Kenia. Ich habe keine Angst vor Reisen dorthin.
Es kommt nicht darauf an, wo ich bin - krank werden kann man überall.
Wie sehen Sie im Nachhinein Ihren Weg zurück nach der Krankheit?
Kipketer: Ich musste ganz von vorne anfangen, es war ein Weg mit
vielen Schwierigkeiten. Im Training konnte ich zunächst nicht rennen,
sondern nur gehen. Aber ich wußte, dass man zurückkommen kann, das
haben andere Sportler gezeigt, zum Beispiel an Steffi Graf oder Heike
Drechsler. Ich musste mir viel Zeit lassen. Das war allerdings ein Problem,
denn ich habe nach der starken Saison 1997 einen riesigen Erwartungsdruck
gespürt, schließlich war ich Leichtathlet des Jahres. Deswegen habe
ich doch mit zu viel Druck versucht, zurückzukommen.
Vor einem Jahr haben Sie dann das 800-m-Finale bei der EM verloren, doch in
dieser Saison haben Sie schon fast wieder angeknüpft an die
Weltrekordzeiten von 1997. Sie galten damals als der Läufer, der
möglicherweise als Erster unter 1:40 Minuten laufen kann. Halten Sie das
für sich noch für möglich?
Kipketer: Ich kann es nicht sagen. Es wird sicherlich möglich
sein, eines Tages unter 1:40 Minuten zu laufen. Aber ich weiß nicht, wer
das laufen wird und ob ich das vielleicht schaffen könnte. Ich muss noch
etwas vorsichtig sein und darf das Training nicht zu sehr forcieren, deswegen
weiß ich jetzt auch nicht, ob ich überhaupt jemals noch einen
Weltrekord laufen kann.
Es gibt offenbar Pläne, die Golden-League-Serie auf acht
beziehungsweise sogar zehn Meetings auszubauen. Was halten Sie davon,
träfe das die Läufer nicht besonders hart?
Kipketer: Für mich als Läufer wäre es nicht so hart.
Aber ich sehe mit der augenblicklichen Konzeption der Golden League andere
Probleme. Ich beurteile das aus Athleten-, nicht aus Marketingsicht. Wir
müssen bei dieser Liga auch an die jungen Sportler denken, die bisher kaum
eine Chance haben. Sie sind schließlich die Stars von morgen. Athleten
aller Disziplinen investieren sehr viel in ihre Karriere, auch in finanzieller
Hinsicht. Da kann es nicht sein, dass manche Disziplinen gar nicht und andere
nur alle zwei Jahre zum Golden-League-Programm gehören. Es muss eine
Lösung gefunden werden, die alle berücksichtigt. Und dann die Sache
mit dem Fernsehvertrag. Die Golden League ist für viele nicht sichtbar -
wer in Afrika hat Canal Plus? Ich weiß, das ist eine große Sache,
aber hier muss es Veränderungen geben, schließlich wollen wir mit
dem Fußball konkurrieren.
Sie wirken in diesem Jahr viel offener als früher. Kollegen und
Funktionäre, die mit Ihnen nach Ihrer Krankheit zu tun hatten, stellen
fest, dass sich Ihre Persönlichkeit positiv verändert hat.
Kipketer: Früher war ich sehr ambitioniert, an die Spitze zu
kommen, heute habe ich mehr Spaß am Laufen. Ich freue mich, dass ich nach
meiner schweren Krankheit wieder laufen kann, und dass ich das mit ganzem
Herzen hier machen kann und nicht auf dem Mond oder auf dem Pluto. Und für
mich ist es heute sehr wichtig, dass wir die Kinder für unseren Sport
motivieren.
Sie leben in Skandinavien. Haben Sie sich schon einmal im Skilanglauf
versucht, können die Kenianer eines Tages auch in dieser Sportart ganz
vorne sein?
Kipketer: Ich habe es noch nicht versucht, obwohl ich Kälte und
Schnee inzwischen kenne. Wenn ich mit dem Laufen einmal aufhöre, dann
möchte ich das Skilanglaufen ausprobieren. Die Kenianer haben sehr starke
10.000-m- und Marathonläufer, deswegen hätten sie sicherlich auch im
Skilanglauf eine gute Chance, wenn sie das von guten Trainern richtig lernen.
Ein Problem bleibt natürlich: in Kenia gibt es keinen Schnee.