Irgendwo hatte ich gelesen,
dass der Neumond ein günstiger Zeitpunkt ist, um schlechte Gewohnheiten auf zu
geben. Im letzten Jahr traf dieser Neumond genau auf meinen 45. Geburtstag. Also die
beste Gelegenheit, um endlich mit dem rauchen auf zu hören - dachte ich mir. Es
stand nur nirgends so genau, dass ich täglich Mordgelüste haben würde und
Fressattacken mich im Minutentakt plagen würden. Aufgeben war aber nicht - Frau
hat schließlich auch ihren Stolz.
Als ich mich bei einem Freund über diese doch anstrengenden und
nervenaufreibenden Nebenwirkungen beklagte, meinte er wohl, er müsste mein
Selbstbewusstsein stärken: "Gereizt bis zur Mordlust? Endlich eine gesunde
Einstellung Deinen Mitmenschen gegenüber. Du hast Fressattacken? Dann fühlst Du
Dich bestimmt bald an wie ein Samtkissen, rund und weich. Schööööön! Mach weiter
so." Ohne mich! Also erst mal die Fressattacken überlisten. Die
Mordgelüste müssen warten. Ab da habe ich täglich einen riesigen Trog mit Obst
und Gemüse in mundgerechten Happen direkt neben dem Computer am Arbeitsplatz
postiert. Allerdings muss da irgendwer heimlich mit gefuttert haben, so schnell
wie der immer leer war.
Der nächste Ratschlag von einem anderen Freund lautete: "Fang doch an mit
Laufen. Das lenkt ab und hilft Dir Deine Gereiztheit ab zu bauen." Na gut,
probieren kann man es ja mal. Ab in den nächsten Sportladen und irgendein paar
Laufschuhe erstanden. Im nach hinein weiß ich, dass die Beratung hätte besser
sein können ...
Und dann bin ich los gelaufen, in der Nähe meiner Wohnung schön am Rhein
entlang. Nur, nach den ersten 500 Metern habe ich schon immer mit einem Auge
auf die Parkbänke geschielt und irgendwie war viel zu wenig Luft da. Der
Sonnenuntergang am Rheinufer ist jedoch auch ganz nett an zu sehen, und auf der
Seite standen keine Bänke. Die Hälfte meines Pensums war schon geschafft und
ich trabte angestrengt zurück. Und, die letzten Minuten konnte ich an nichts
anderes als an eine Zigarette denken. Das war bei den nächsten Laufrunden genau
so. Meine Mordgelüste hatten ein konkretes Ziel im Visier. Dieser Freund konnte
von Glück reden, dass er etwa achtzig Kilometer weit weg von Köln wohnt! Super
Tipp mit dem Laufen!
Zudem liefen mehrere Damen im fortgeschrittenen Rentenalter des Öfteren mal
eben locker an mir vorbei. Bis dahin hatte ich mich für relativ sportlich
gehalten, Fitness-Studio, öfter auch mal mit dem Rad unterwegs. Allerdings
hatte ich nie Ambitionen zu Ausdauersportarten. Ewig irgendwo lang zu laufen
nur für die Fitness, erschien mir furchtbar langweilig. Und dafür vielleicht
auch noch morgens eher aufstehen, ein sehr abwegiger Gedanke. Das letzte mal
längere Strecken am Stück bin ich vor etwa zwanzig Jahren mit meiner damaligen
Freundin Birgit gelaufen. Drei bis vier Wochen bevor wir mit ein paar
befreundeten Jungs ins Gebirge zum Wandern fahren wollten, haben wir zwei mal
die Woche abends unsere Runden im Park gedreht. Schließlich wollten wir uns von
den Pappnasen nicht jeden Tag zehnmal anhören müssen, dass wir zu lahm sind und
hinterher hängen. Da war er wohl auch schon, der Stolz - nicht klein bei zu
geben.
Trotz Luftnot, Sehnsucht nach Nikotin und Mordgelüsten lief ich regelmäßig
weiter, nach und nach wurden die Distanzen länger und das Tempo etwas flotter.
Zumindest hat mir der achtzig Kilometer entfernt wohnende Freund viele gute
Tipps gegeben, wie ich mein Lauftraining langsam steigern kann. Nach Köln ist
er nur sehr selten gekommen und nie lange geblieben. Wahrscheinlich hat er sich
nie so ganz sicher gefühlt, vor allem wenn er mit dem Rücken zu mir stand oder
saß.
Etwa ein Jahr später wollte ich endlich wissen, was ich so schaffen kann. Also
habe ich mich zu meinem ersten 10-km-Lauf angemeldet. So richtig konnte ich mir
nicht vorstellen, wie lang denn jetzt zehn Kilometer sind, wenn man sie am
Stück läuft. Meine Trainingsläufe habe ich immer nach Zeiteinheiten eingeteilt
und wusste nie so genau, wie viel Kilometer ich dabei zurückgelegt habe. Ein
bisschen aufgeregt war ich schon bis der Startschuss fiel. Und dann war ich
stolz wie sonst was, als ich die zehn Kilometer unter einer Stunde geschafft
hatte.
Das lief doch ganz gut, da könnte ich ja vielleicht auch mal einen Halbmarathon
versuchen ... Dem entfernten Freund war verziehen. Schließlich war er der
einzige, den ich kannte, der mir einen Trainingsplan dafür machen konnte. Den
hat er dann vorsichtshalber telefonisch durch gegeben.
Sechs Wochen später fuhr ich ins Bergische Land, nicht weit von Köln,
zu meinem
ersten Halbmarathon rund um die Agger-Talsperre. Wunderschöne
Landschaft,
herrlicher Sonnenschein, nicht zu heiß - einfach ein wunderschöner Tag.
Ich wollte
einfach nur ankommen, wenn möglich nicht als letzte und wenn ich mit
zweieinhalb Stunden durchkommen würde, das wäre echt super. Nach etwas
mehr als
der Hälfte der Strecke habe ich mich schon ab und an gefragt, was ich
mir da
eigentlich eingebrockt habe. Ich dachte nur, die zieht sich aber, die
Kiesgrube
... Nach 2:17 und ein paar Sekunden war ich tatsächlich über die
Ziellinie -
eben ein wunderschöner Tag.
Mittlerweile bin ich sicher, dass dieses Laufen ein ziemliches Suchtpotential
hat. Ist aber legal, soweit ich weiß. Häufig sperrt sogar die Polizei die
Strecken für diese Durchgeknallten ab, damit sie ungestört süchteln können.
Jedenfalls saß ich noch am selben Abend an meinem Rechner und stöberte im
Internet nach den nächsten Laufterminen. Nun ja, da gebe es ja noch den
Marathon, der in meinem unbekümmerten Hinterkopf rein rechnerisch als zweimal
ein Halbmarathon herumgeisterte. So ganz verausgabt war ich letztendlich nicht
gewesen. Ich musste erst mal die Distanz für mich austesten und rein
theoretisch hätte ich ja noch ein bisschen weiter laufen können...
Eine Woche war noch Zeit, um sich mit der günstigsten Startgebühr anzumelden -
für den real,- BERLIN-MARATHON. Dort habe ich ein paar Jahre gelebt und
Christine, eine meiner besten Freundinnen, schon zwei Jahre nicht mehr besucht.
Eigentlich würde ich schon sehr gerne einmal wieder nach Berlin fahren. Aber
knapp über zweiundvierzig Kilometer laufen, um genau zu sein 42,195 Kilometer,
schon heftig diese Vorstellung. Und wenn ich das schon mache, dann will ich da
nicht fünf Stunden oder so rumeiern, da nimmt die Strecke ja erst recht kein
Ende. Was wiederum heißt, dass ich öfter und intensiver trainieren müsste. Seit
einiger Zeit bin ich freiberuflich auf dem Arbeitsmarkt unterwegs und brauche
deshalb neben der eigentlichen Arbeit noch viel Zeit - um einen Kundenstamm
aufzubauen, Informationen einzuholen, mich fachlich auf dem laufenden zu halten
und so weiter. Am besten wäre wohl ein Sponsor, in meiner Altersklasse
wahrscheinlich am ehesten ein Hersteller für Stützstrümpfe. Also den Gedanken
brauchte ich gar nicht weiter verfolgen. So nach und nach manifestierte sich
jedoch ein anderer Gedanke, der sich irgendwie zur fixen Idee entwickelte:
"... wenn ich das schaffe, kann ich alles schaffen!". Dieser Gedanke
ließ mir keine Ruhe mehr, vor allem während meiner ewig langen Läufe, bei denen
mich niemand begleiten wollte, geisterte er mir ständig durch den Kopf. Da hat
man jede Menge Zeit zum nachdenken. Wenn ich es schaffe, das zu organisieren,
Training, Job, Freunde, Familie - dann kann ich wirklich alles schaffen. Ich
habe mich noch in derselben Woche angemeldet, jeeehhh!
Sieben Wochen nach dem ersten Halbmarathon bin ich mit einer Freundin, die ich
bei einem meiner Trainingsläufe wieder entdeckt habe, den nächsten gelaufen,
immerhin knapp fünfzehn Minuten schneller als beim ersten Mal. Geht doch!
Der entfernte Freund hat es nicht geschafft, mir den versprochenen
Trainingsplan für den Marathon durch zu geben. Schade eigentlich, für den Halbmarathon
hat das wunderbar funktioniert. Da musste ich eben selber was zusammen basteln.
Mittlerweile trainiere ich viermal pro Woche, lange Läufe, langsame Läufe,
schnelle Läufe, Fahrtenspiele - was man halt so macht, damit die Startgebühr
nicht zum Fenster raus geschmissen ist. Ich stehe sogar morgens eher auf! Wenn
mir das voriges Jahr jemand prophezeit hätte, dem hätte ich eine weiße Jacke
ohne Ärmel empfohlen. Wo ich doch eigentlich mindestens meine acht Stunden
Schönheitsschlaf brauche. Und wenn mir dann noch jemand gesagt hätte, ich würde
versuchen einen Marathon zu laufen - total durchgeknallt, hundert Prozent!
Inzwischen steht für mich fest: "... wenn ich das schaffe, kann ich alles
schaffen!"
PETRA NEUMANN