Man kann nicht unbedingt sagen, dass Laufen in Kenia ein Volkssport
ist. Es gibt keine Kette von Rennen, bei denen fünfstellige Zahlen von
Läufern an den Start gehen. Laufen ist in Kenia im Gegensatz zu vielen
anderen Ländern der Welt kein Hobby in diesem Sinne. Laufen ist viel
mehr. Es ist eine Notwendigkeit. Und der Sport bietet zudem eine große,
existenzielle Chance. Denn die meisten kenianischen Topläufer kommen
aus armen Verhältnissen. Mit ihren Erfolgen können sie sich selbst und
ihren Familien ein besseres Leben finanzieren – viele haben durch
Start- und Sieggelder sogar für den Rest des Lebens ausgesorgt.
Laufen ist der Exportschlager Kenias. Vielleicht noch mit Safaritouren,
doch ansonsten macht Kenia mit nichts anderem so viele positive
Schlagzeilen und erregt derartige internationale Aufmerksamkeit wie mit
den Läufern des Landes. Von den rund 150 weltweit bedeutendsten
Straßenrennen haben die Kenianer im vergangenen Jahr 70 Prozent
gewonnen. Bei den Frauen ist die Quote etwas niedriger, sie liegt bei
gut 45 Prozent. Im Marathon ergibt sich ein identisches Bild. In Berlin
zum Beispiel kam der Marathonsieger in den letzten sechs Jahren immer
aus Kenia. In den letzten vier Jahren belegten Kenias Männer dabei
mindestens die ersten drei Plätze. Beim legendären Boston-Marathon
stellte Kenia in den letzten 15 Auflagen nur zweimal nicht den Sieger.
Der Erfolg der Läufer hat inzwischen auch eine wirtschaftliche
Bedeutung im westlichen Kenia, wo die meisten Topläufer herkommen. „Das
Geld, das die kenianischen Läufer in Europa und Amerika verdienen,
investieren sie in ihrer Heimat im westlichen Hochland. Dies ist dort
ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor, der auch Arbeitsplätze schafft“,
erklärt Tom Ratcliffe, der amerikanische Manager der Trainingsgruppe
KIMbia, die sich hauptsächlich aus Kenianern zusammensetzt. Viele
Läufer investieren in Farmland. Doch Timothy Cherigat zum Beispiel, der
Sieger des Boston-Marathons 2004, baut zurzeit in Eldoret (West-Kenia)
eine Tankstelle.
Ein typisches Beispiel für eine erfolgreiche Läuferkarriere bietet
Abraham Chebii. Als drittes von sieben Kindern ist er aufgewachsen auf
einer Farm in Kenias Great Rift Valley. Im westlichen Hochland musste
er jeden Tag zur Schule rennen. „Es ist normal für kenianische Kinder,
dass sie zur Schule rennen. Niemand geht, alle rennen“, erklärt Abraham
Chebii. Die Schulwege auf unbefestigten Straßen sind oft hügelig, die
Kinder rennen in der Regel barfuß. Für Abraham Chebii betrug eine
einfache Strecke zur Schule drei Kilometer. Da er in der Mittagspause
nach Hause rannte und dann wieder zurück, lief Abraham Chebii täglich
zwölf Kilometer. „Wir haben immer bis zum letztmöglichen Zeitpunkt
gewartet, bevor wir losliefen. Außerdem sollten wir zum Essen pünktlich
sein. Daher hatten wir gar keine andere Wahl, wir mussten rennen.“
Damit hat Abraham Chebii wie viele andere Kollegen unbewusst eine
Grundlage gelegt für seine Karriere. Zwar hat er schon als Kind den
Hindernisläufer Moses Kiptanui bewundert, doch zunächst war er nicht
sonderlich erfolgreich bei Schulwettbewerben über die Mittelstrecken
oder im Cross. Andere liefen schneller. Als nicht genug Geld vorhanden
war, um ein Studium zu finanzieren, setzte Abraham Chebii auf den
Laufsport. Und er hatte Glück. In den Langstreckenrennen zeigte er
Talent – und so war es ausgerechnet Moses Kiptanui, der ihn eines Tages
ansprach und in ein Trainingslager mitnahm.
Heute ist Abraham Chebii ein Weltklasseläufer über 5.000 Meter, vor dem
selbst der äthiopische Weltrekordler Kenenisa Bekele großen Respekt
hat. In einem Endspurt Bekele zu schlagen, das ist bisher nur sehr
wenigen Läufern gelungen – einer davon ist Abraham Chebii. Und wer
Kenenisa Bekele schlägt, wird geachtet in Kenia. Die Äthiopier sind die
großen Rivalen.
Längst nicht alle kenianischen Läufer sind Stars in ihrer Heimat. Wer
aber Goldmedaillen holt oder Weltrekorde bricht oder eines der großen
Marathonrennen gewinnt, der wird gefeiert. „Ich möchte als großer
Läufer bekannt werden, deswegen muss mein Name in die Rekordbücher“,
hatte Daniel Komen, eines der größten kenianischen Talente aller
Zeiten, einmal gesagt. Seit fast zehn Jahren sind seine Weltrekorde
über 3.000 m und 2 Meilen unangetastet. Als Paul Tergat nach seinem
Marathon-Weltrekord in Berlin 2003 zurück nach Kenia kam, wurde er im
offenen Wagen stundenlang durchs Land gefahren.
Doch auch die weniger bekannten Läufer werden zumindest bewundert. Es
gibt Fotos, auf denen Schulkinder im Hochland am Wegesrand stehen. Sie
schauen auf die Straße. Autos sind nicht zu sehen, die sie bestaunen
könnten, aber Läufer, die im Training vorbeirennen. Dass es Profis
sind, erkannt man schon von weitem an der Kleidung.