Sharlene Wills, ist seit ihrer Geburt blind und wird erstmalig am 30. September
2001 in Berlin Marathon laufen.
Als ich in der Mitte tausender Läufer und Walkern des City of Los
Angeles Marathons im März 1988 stand, wirbelten viele Gedanken und
Gefühle durch mich. Ich wartete ängstlich auf den Schuß,
welcher uns auf den Weg schicken würde und wunderte mich: "Was habe
ich getan, daß ich versuche fast ohne Training einen 42KM Lauf
mitzumachen? Kann ich die Strecke beenden? Wird meine Führhündin uns
über den Kurs bringen, wie die Offiziellen bezweifeln? Bin ich einfach
verrückt, daß ich etwas versuche, nur weil man meint, es ist
für eine Blinde mit Führerhund nicht möglich?" Ich hatte
Angst! Die Feiermusik war so laut, daß ich dachte, ich würde davon
taub, und der Lärm von den Hubschraubern vibrierte durch meinen
Körper. Ich konnte nur ein kleines Gebet murmeln, Sheba einmal streicheln
und -- BOOM! Es ging los!
Dann fing eines von den aufregendsten und wunderbarsten Ereignissen meines
Lebens an, und etwas, daß mein Leben für immer ändern
würde. Wir sind nicht falsch gelaufen, und wir haben anderen geholfen, auf
dem Kurs zu bleiben. Wir haben nicht nur alle 26.2 Meilen geschafft,und, obwohl
wir langsam gewesen sind, waren wir nicht die Letzten, wie ich gefürchtet
hatte. Der Applaus der Zuschauer, die Unterstützung so vieler umgebender
Läufer-innen, und gerade das Mitmachen in etwas, was physisch sehr
schwierig ist, machten alle 7.5 Stunden, die wir brauchten, wertvoll. Als wir
über die Ziellinie kamen und ich die Medallie um meinen Hals gehängt
wurde, wußte ich, daß der Marathon immer ein Teil meines Wesens
sein würde. Von frühester Kindheit an habe ich Sport und physische
Aktivität gern gehabt. Ja, ich wurde blind geboren und habe nur etwas
Lichtschimmer und ab und zu mal ein Paar Farben gesehen, (im rechten Auge).
Aber ich denke erstens, weil ich es nie anders gekannt habe, und zweitens und
wichtiger, vielleicht, weil weder meine Eltern noch meine Lehrer mich viel
eingegrenzt oder zu mir gesagt haben, "Du kannst nicht. Du bist
blind" habe ich wenig Angst gehabt. Wenn die Nachbarkinder Rollschuh
fahren gegangen sind, da bin ich auch mitgegangen. Ich konnte schneller rennen,
höher auf die Bäume klettern und war stärker, als alle
Mädchen in meiner Schule und in der Nachbarschaft, und konnte auch genau
so gut solche Dinge machen wie viele Jungen. Ich wußte im Kopf, daß
ich nicht sehen konnte. Aber erst später habe ich verstanden, daß es
für viele Menschen eine sehr große Behinderung ist, blind zu sein.
Ich war ich und ich tat fast alles,was ich wollte, obwohl manche Sachen, da bin
ich sicher, Erwachsene sehr erschreckt haben. Ich glaubte, daß ich alles
machen könnte, besonders das Laufen. Da ich klein und kurze Beine habe,
lernte ich ganz früh, sehr schnell zu laufen, um so mit großen
Leuten mitzuhalten und auch um zu zeigen, daß eine Blinde nicht immer
voller Angst ist und langsam gehen muß. Ich glaube, dieser Wunsch die
immer gegenwärtigen Mythen über Blindheit zu zerbrechen, spielt
-besonders als ich älter wurde- eine immer größere Rolle bei
meinen Lebenszielen.
Sport ist in Amerika in den Klassen 2 -12 ein Teil des Unterrichts und ich
liebte diese Stunden, denn dann durfte ich ballspielen, seilspringen und
natürlich laufen. Leider, damals (1952-1969) war Sport für
Mädchen fast unmöglich. Also, als ich und andere Mädchen eine
Laufgruppe (track team)gründen wollten, war es sehr schwierig unsere
Lehrer und dieSchulverwaltung davon zu überzeugen. Schließlich
gelang es uns jedoch und während meines letzten Jahres in der High School
(12. Klasse) habe ich an meinem ersten Laufwettbewerb teilgenommen. Ich lief
ein 400 m Rennen. Ich habe nicht gewonnen, war aber auch nicht die Letzte. Ich
durfte die innere Bahn benutzen, damit ich den Rand mit einem Fuß
spüren konnte, und ich hatte Leute, die mich in den Kurven angesprochen
haben und mein Coach rief mir von der Ziellinie nach Hause: Was für ein
Spaß!
In der Universität war ich allerdings nicht erfolgreich, ein
Frauen-Leichtathletik-Team zu bilden. So begann eine lange Zeit für mich
ohne viel zu Laufen. Aber ich machte viele lange Spaziergänge mit
Blindenstock, mit sehendrn Freundinnen und bekam mit 32 Jahren meine erste
Blindenhündin. Ich kaufte auch ein Tandem und benutzte es sehr oft. Ich
machte sogar damit eine wunderschöne Reise mit meinem Mann und meinem
2-jährigen Sohn durch Teile von Deutschland und Holland, wobei mir jede am
Wegesrand stehende Kuh bis ins kleinste Detail beschrieben wurde.
Ich habe in der Uni Deutsch studiert und wollte das, was ich gelernt habe,
benutzen. Also ging ich, nachdem ich mein B.A. Degree in einer kleinen
Universität in Kalifornien gemacht habe, nach Deutschland; zuerst nach
Stuttgart und Umgebung und später nach Berlin. Dort habe ich einen
3-jährigen Kurs in Musiktherapie gemacht und danach mit behinderten
Kindern gearbeitet. In Berlin habe ich auch mein Mann kennengelernt und
geheiratet und mein Sohn Michael wurde dort geboren. Während dieser Zeit
blieb ich physisch aktiv, indem ich in den Berliner Blindensportverein eintrat.
Ich lernte Handball und ging jede Woche schwimmen.
Als Michael 4 Jahre alt war, kehrten wir in die U.S.A. zurück. Ich
suchte über ein Jahr Arbeit als Musiktherapeutin, konnte aber nichts
finden. Daher nahm ich eine Arbeitsstelle als Sekretärin im Bezirksamt in
Los Angeles an. 1987 bekam ich eine höhere Stellung im District Attorneys
Office, wo ich, bis heute, Polizeiinterviews protokolliere. Damals begann ich,
von der Teilnahme am Los Angelos Marathon zu träumen. Mein Büro hatte
damals ein Team und ich habe meinen Namen auf die Liste geschrieben. Zuerst
waren alle sehr froh darüber, bis sie feststellten, daß ich mit
meiner Blindenhündin laufen wollte (keiner meiner sehenden Freunde oder
mein Mann konnten mit mir starten - sie konnten alle nicht laufen). Nur wenige
Menschen glaubten, daß eine Blinde mit Hund solch eine Entfernung laufen
konnte (sie haben wohl nie von dem Ididarod Schlittenhunderennen gehört,
so schien es mir). Also mußte ich kämpfen, um akzeptiert zu werden.
Aber je mehr sie die Sache ablehnten, desto stärker wurde meine Wille,
trotz allem mitzumachen. Schließlich wurde es mir erlaubt, wir haben
mitgemacht, mit Erfolg, und, wie ich vorher sagte, war es für mich ein
"fait dcomplit". Ich würde immer wieder Marathons laufen. 1992
lief ich meinen 4. L. A. Marathon mit der Radioredakteurin Sharon Kaetchen. Wir
berichteten während des ganzen Rennens über unsere Eindrücke.
Ich erzählte alles, was ich durch hören, riechen und abtasten
wahrnahm, und sie erklärte, alles was sie erlebte. Für unseren
Bericht haben wir den "Golden Mike Award" bekommen, einen sehr
wertvollen Preis, und ich habe immer noch eine Tonbandkopie unserer
Erlebnisse.
1993 lief ich zum ersten Mal in San Francisco und habe dort mein
persönliche Bestzeit erreicht (4.5 Stunden). 1998 und 1999 lief ich in
Boston, auch habe ich in New York und den Marine Corps Marathon (Washington,
DC) mitgemacht. Aber mein 32. Marathon in Berlin wird der erste internationale
Lauf für mich sein. Ich kann es kaum erwarten, viele von mir geliebte
Bezirke dieser schönen Stadt zu besuchen.
Man fragt einen Läufer "Warum tust Du das?" Ich kann nur
für mich selbst antworten. Für mich bedeutet Laufen Freiheit. Es ist,
als ob man fast fliegen kann. Meinen Körper zu spüren, wie er fliegt
(oder manchmal krabbelt), die verschiedenen Umgebungen zu riechen, zu
hören und zu tasten, die freundlichen Grüße und
Glückwünsche der Zuschauer zu hören, obwohl Du nicht weißt
(lange Zeit war es bei mir so), daß sie für Dich besonders rufen,
die Wärme, die man bekommt, wenn ein andere Läufer einem auf die
Schulter klopft oder unterstützende Worte im Vorbeilaufen zuruft -- diese
Sachen vertreiben allen Schmerz und alle Müdigkeit. Sie zeigen, daß
wir wirklich in einer wunderbaren Welt leben. Manchmal habe ich gewünscht,
daß ich ohne Verbindungsband und ohne Gefahr laufen könnte, aber,
wer weiß? Wahrscheinlich hätte ich dann nie so viel gute Menschen
kennengelernt und beste Freundschaften geschlossen.
Manche Leute sagen zu mir: "Sie sind eine Inspiration." Ich kann
nur antworten: "Das freut mich." Sehen Sie, wenn ich durch das Laufen
jemandem Mut machen kann, etwas neues oder schwieriges zu probieren, gibt es
kein besseres Geschenk, vielen Menschen zurückzugeben, was sie für
mich getan haben.
Es ist schwierig, einen Marathon zu laufen. Manchmal kann ich nicht
trainieren, wie ich möchte. Ich muß meistens auf dem Laufband
laufen. Da ich nicht immer Führpersonen finden kann und nicht alle
Führhunde so etwas mitmachen, kann ich nicht immer auf
Leichtathletikbahnen, auf Straße oder im Wald trainieren.
Glücklicherweise bin ich Mitglied in einem Running Club und dadurch kann
ich weiter laufen. Ich werde älter und also vielleicht auch langsamer.
Trotzdem, solange ich einen Fuß vor den anderen setzen kann und so lange
ich immer weiter irgendwie gehen kann, werde ich noch weitere
Marathonläufe machen.
Ich wünsche jedem Läufer-in alles, alles Gute und - wie ein lieber
Freund von mir sagt: "Laßt die Schuhsohlen qualmen."
Sharlene Wills