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LAUFHISTORIE

In Kooperation mit RUNNER’S WORLD erscheint hier jeden Monat ein gekürzter Beitrag aus dem aktuellen Heft.


Avery Brundage schaute auf Paavo Nurmis Charakter, und ihm fiel zuerst der Vergleich mit dessen „mathematischem Gebrauch von Zeit“ ein. Der frühere amerikanische Präsident des Internationalen Olympischen Komitees wollte damit sagen, dass der Verstand des finnischen Läufers wie eine Uhr tickte.

Dies hieß aber auch, dass Nurmi in strenger Disziplin jedes eigene Gefühl zu unterdrücken versuchte, was auch viel über seine zwischenmenschlichen Defizite erzählte. Über seine Scheu, die Verschwiegenheit, seine Einsamkeit. Er war die größte lebende Legende, welche die internationale Leichtathletik im zwanzigsten Jahrhundert kannte. Er gewann sechs olympische Goldmedaillen sowie drei Goldene in den Mannschaftswettbewerben bei den Spielen in Antwerpen 1920, Paris 1924 und Amsterdam 1928. Nurmi stellte dreizehn offizielle und sieben inoffizielle Weltrekorde auf.

Verdrießlichkeit und ein Sich-ins-Joch-Spannen waren Prägungen, die mit Paavo Nurmi gemeinsam durch sein ganzes Leben gingen. Sie hatten ihre Wurzeln offensichtlich in seiner strengen Kindheit. Paavo Johannes Nurmi war das zweite Kind von Johan Frederik Nurmi und seiner Frau Matilda Vilhelmina. Er wurde am Sonntag, dem 13. Juni 1897, in der Hafenstadt Turku im Südwesten Finnlands geboren. Aber es würde sich noch herausstellen, dass er allein schon deswegen kein Sonntagskind war.

Sein Vater war Kleinbauer und Pächter. Später fand er als Schreiner eine Anstellung im staatlichen Eisenbahn-Maschinen-Geschäft. Ihre erste Wohnung, in die sie 1903 einzogen, bestand aus einem einzigen Zimmer und einer Küche, die später auch noch untervermietet werden musste. Der kleine Paavo war das Kind armer Leute.

Die Erstgeborene, Siiri, starb nach ihrem zweiten Geburtstag, dann kam Paavo, dem eine andere Siiri, geboren 1899, folgte. Die Tochter Saara kam 1902 auf die Welt, der Sohn Matti im Jahr 1905 und schließlich die Tochter Lahja, die in ihrem dritten Jahr starb. Der Vater litt an einem schwachen Herzen. Er war schweigsam und sparsam, was gar nicht anders ging. Seine Mutter war das Gegenteil, herzlich und einfühlsam.

Mit neun Jahren betrieb Paavo in den Hinterhöfen mit Nachbarskindern seinen Sport. Er lief immer schneller als seine Altersgenossen. „Ein unnötiger Zeitvertreib“, kritisierte sein gottesfürchtiger Vater. Aber der Kleine erwies sich als hartnäckiger als sein Vater. „Wir begannen mit einem extrem harten Trainingsprogramm“, erinnerte sich Paavo. Auch später kam ihm nie etwas anderes in den Sinn. Jeden Tag sprangen oder warfen sie, „Langläufe, meistens querfeldein, machten wir drei bis viermal in der Woche. Jedes Mal bis zu zehn Kilometer weit. Normalerweise war der Trainer ein älterer Junge.“

Im Jahr 1908 lief Paavo auf einem sandigen Kurs 1500 Meter in der Zeit von 5:02 Minuten. Da war er elf. Mit 17 schloss er sich der Turun Urheiluliitto (Sportclub von Turku) an, und er, die Mitgliedsnummer 596, hielt dem Verein bis zuletzt die Treue.

Nurmi wurde erstaunlich früh Vegetarier. Er war noch ein halbes Kind. Sieben Jahre lang aß er kein Fleisch. Er trank weder Kaffee noch Tee und alkoholische Getränke schon gar nicht. In der Schule war er der Viertbeste seiner Klasse. Seine Familie konnte sich den Besuch einer weiterführenden Schule aber nicht leisten.

Sein Vater starb 1910 im Alter von 49 Jahren. Danach nahm seine Mutter die Gelegenheitsarbeiten an, die sie kriegen konnte. Sie trug Mörtel auf dem Bau und arbeitete als Putzfrau. Paavo fuhr als Dreizehnjähriger Backwaren aus. Mit den hölzernen Rädern seines Karrens holperte er über das Kopfsteinpflaster von Turkus Straßen. Er hackte Holz, schleppte Wasser und half seiner Mutter bei der Hausarbeit.

Wenn er heimkam, ging er durch den Hintereingang, um seinen jungen Freunden aus dem Weg zu gehen, die ihre Mußestunden pflegten. „Daran konnte ich nicht im Traum denken. Meine ganze freie Zeit verbrachte ich beim Gehen“. Er meinte damit sportliches, schnelles Gehen. Paavo hielt den tröstlichen Gedanken hoch, dass selbst die tägliche Arbeitsfron ihm als Training gut tat.

Das war schon die Zeit, als er sich für das Laufen entschieden hatte, und der Entschluss wankte nie. Als sein Landsmann Hannes Kolehmainen in Stockholm 1912 die olympische Goldmedaille über 10000 Meter gewann, kaufte Paavo sich sein erstes Paar Rennschuhe. Er erhielt einen Job im Ingenieursladen eines Goldschmieds, mit 15 wurde er Feiler bei einer großen Schiffswerft, später bekam er Arbeit bei einer neuen Gießerei, bevor er 1919 zum Wehrdienst in die Armee eingezogen wurde.

Die Kargheit seiner Kindheit prägte Paavo auf das Nachhaltigste. Die Laufleidenschaft erklärt sich aus dem brennenden Ziel, der Welt seine persönliche Meisterschaft vorführen zu können. Die geringen Investitionen konnte sogar er sich leisten, nämlich eine Hose, ein Hemd und später Sportschuhe. Armut war kein Hindernis, sondern sie stellte sogar, genau besehen, eine fantas-tische Motivation für den Jungen dar. Welches Arbeiterkind konnte wie er auf goldglänzende Träume verweisen?

 

Lesen Sie den kompletten Artikel von Robert Hartmann in der Mai-Ausgabe von RUNNER’S WORLD.

Eine Übersicht über Nurmis Weltrekorde und Olympia-Erfolge sowie andere Porträts von Laufstars finden Sie unter www.runnersworld.de

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