Leistungsträger schwächeln im Olympiajahr, Fachverband zeigt dem
Laufbereich die kalte Schulter - und die Veranstaltungen boomen (weiter).
Wohin geht es mit dem deutschen Marathonlauf? Die Saisonbilanz für die
deutsche Marathonspitze fällt jedenfalls für das Jahr 2000 bescheiden
aus. Bei seinem Job ist Bundestrainer Wolfgang Heinig nicht zu beneiden. Er,
der seit einem halben Jahr sowohl für den Frauen- als auch nun für
den Männerbereich verantwortlich zeichnet, sieht dies als eine
Herausforderung der besonderen Art. Weniger bei den Frauen, auch wenn hier die
Ergebnisse der olympischen Saison keineswegs zufriedenstellen dürfen.
"Ich fange bei Null an", vernichtende Einschätzung über die
Situation bei den Männern. Die Zeiten, als in der Abteilung Ost die
Cierpinski, Peter, Heilmann und Co. weltweit Vorläufer waren und durch
Freigang in Barcelona noch einmal olympisches Bronze holten, diese sind ebenso
vorbei wie die, als in der Abteilung West die Herle, Salzmann, Steffny und
Dobler auf hohem Niveau der Weltklasse Paroli bieten konnten. Offenbarungseid
nun an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. In Sydney liefen unsere Besten Carsten
Eich als Vierundfünfzigster und Michael Fietz als
Siebenunddreißigster um Längen dem internationalen Standard
hinterher.
Keinen Deut besser waren die bislang stets auf Erfolgskurs laufenden Frauen
in down under. Erfolgsgarant Katrin Dörre-Heinig blieb nach einer
Fersensporn-Operation schon im Vorfeld nur die Absage, Claudia Dreher musste
sich vor Ort erkältungsbedingt anschließen. Bliebe alleine die
WM-Sechste Sonja Oberem, die zu allem Überfluss wegen muskulärer
Probleme einen rabenschwarzen Tag erlebte. "Ein sehr unglückliches
Jahr" blickt Heinig zurück. Wäre da nicht Debütantin
Melanie Kraus wenige Tage zuvor auf dem schnellen Berliner Hauptstadtkurs mit
2:27:58 ein Einstand nach Maß gelungen, der allerdings im vorolympischen
Trubel regelrecht untergegangen war. Leider honoriert unsere erfolgsorientierte
Gesellschaft kaum einen fünften Rang, vor allem wenn schon ein zweiter
Rang einer Niederlage gleichkommt. Deshalb musste Heinigs Frauenanalyse
ähnlich hart ausfallen, schließlich war die Marathonabteilung
weiblich im Gegensatz zu Atlanta, Athen, Budapest und Sevilla erstmals ohne
Spitzenergebnis geblieben. "Wir haben an Boden verloren".
Und die Perspektiven? Heinig blickt zwar hoffnungsvoll in Richtung
Europameisterschaften 2002, die zudem im eigenen Land alle Kräfte
bündeln sollten. Doch wer sollen die Hoffnungsträger sein? Ehefrau
Katrin Dörre ist dann 41, die hoch gehandelte Um- bzw. Wiedereinsteigerin
Kathrin Weßel 35 Jahre alt. Hingegen sollten Sonja Oberem mit 29, Claudia
Dreher mit 31 sowie möglicherweise die dann zur Diskussion stehende
zweifache Olympiastarterin Petra Wassiluk mit 32 Jahren dem hohen
Erwartungsdruck standhalten und zumindest in der Mannschaftswertung auf
Medaillenkurs laufen können. Anders hingegen die Männer, wo alleine
Eich und Fietz nach ihren enttäuschenden Vorstellungen von Sydney auf
Wiedergutmachungstour sein sollten. Dahinter klafft eine weite Lücke,
zumal andere wie Sebastian Bürklein ein schwarzes Jahr 2000 hatten, sodass
es bei den Männern nur noch aufwärts gehen kann.
"Wir haben ein Nachwuchsproblem", bekennt der als Nachwuchstrainer
gekündigte Jürgen Stephan, "wenn der Verband nicht rasch
gegenlenkt, dann ist in einem Jahr bereits völlige Funkstille". So
lange aber dem Verband Multitalente wie Wolfram Müller in den Schoß
fallen, so lange wird wenig passieren, weil die Medaillenzählerei
vermeintlichen Erfolg dokumentiert. Die Bahnleichtathletik scheint beim
Deutschen Leichtathletik-Verband alleine erfolgsversprechend zu sein. Nur so
lässt sich die Streichung der Straßenlaufkader männlich wie
weiblich verstehen, nachdem 1999 schon der traditionelle
Straßen-Länderkampf aus Etatgründen dem Rotstift zum Opfer
gefallen war. In der Konkurrenz zu den Disziplinblöcken
Würf/Stoß, Sprung und vielleicht auch Sprint haben Cross und
Straße verbandsintern längst den Kürzeren gezogen, zumindest
was die Fördermaßnahmen betrifft. Nur sollte sich der DLV als
Sachwalter der Vereine einmal daran erinnern, welchem Disziplinblock die Masse
der Beitragszahler angehört. Wenn Leichtathletik lebt, dann vornehmlich
durch die vielfältigen Aktivitäten der ehrenamtlichen Organisatoren
auf der Bahn, im Gelände und primär auf der Straße.
Wohlverstandener Breitensport eben. Es ist falsch, die zahlenmässg starken
Laufwettbewerbe alleine als Einnahmequelle zur Aufstockung des
Verbandshaushaltes zu sehen. Leistung und Gegenleistung sollten in einem
vernünftigen Verhältnis stehen.
Ganz im Gegensatz zur dürftigen Leistungsbilanz können sich
nämlich die deutschen Veranstalter mit einer exzellenten Organisation ohne
weiteres sehen lassen. Allen voran der real,- BERLIN-MARATHON, der zusammen mit
Boston, Chicago, London und New York die Golden League des Marathons darstellt.
In vieler Hinsicht sind die Mildes, Richters und Co. ausgesprochen kreativ und
innovativ, sodass ein Ende des Teilnehmerbooms in der deutschen Hauptstadt
trotz der bereits erreichten 35 000 Startern noch nicht abzusehen ist. Mit 15
000 Startern und einem Schuss internationalem Flair ist Hamburg auf dem Sprung
zur weltweiten Akzeptanz, während die gleichstarken Kölner eher den
verfrühten Auftakt des Karnevals feiern wollen. Die Bankenmetropole
Frankfurt rüstet unter neuer Organisation und dem Euro-Zeichen
kräftig auf, um zumindest mit international anerkannten Ergebnissen
glänzen zu können. München, Mainz, Regensburg...., die Reihe
gutklassiger Veranstaltungen lässt sich hierzulande beliebig lange
fortsetzen. Und immer neue Läufe verdichten die deutsche
Marathon-Landkarte. Beleg aber auch für eine Marathonbewegung in
Deutschland, die weniger das Unter-drei-Stunden-Resultat, sondern eher den
Fun-Faktor und das Erlebnis Marathon schätzt.
Wilfried Raatz