Wenn noch ein Stab herumgelegen hätte, Maurice Greene hätte ihn wohl
genommen und wäre gesprungen. So aber musste die Stabhochsprungmatte des
Berliner Olympiastadions als Spielplatz ausreichen. Den 41.300 Zuschauern beim
ISTAF, dem Finale der Golden-League des internationalen
Leichtathletik-Verbandes (IAAF), genügte diese Show allemal. Und Maurice
Greene hatte allen Grund sich nach seiner Generalprobe für die Olympischen
Spiele, deren Leichtathletik-Wettbewerbe genau drei Wochen nach dem Istaf in
Sydney beginnen, kindisch zu freuen. Gerade hatte der 100-m-Weltrekordler (9,79
Sekunden) für einen fulminanten Schlusspunkt des ISTAF gesorgt und damit
dem scheidenden Cheforganisator Rudi Thiel noch einen Stadionrekord zum
Abschied geschenkt.
Als Schlussläufer hatte Maurice Greene die 4x100-m-Staffel der USA in
erstaunlichen 37,65 Sekunden ins Ziel geführt. Damit sprinteten Jon
Drummond, Bernard Williams, Curtis Johnson und Maurice Greene zur
sechstschnellsten Zeit aller Zeiten und verpassten den Weltrekord, den die
amerikanische Staffel 1992 bei den Olympischen Spielen von Barcelona auf- und
ein Jahr später bei den Weltmeisterschaften von Stuttgart eingestellt
hatte, lediglich um 25 Hundertstelsekunden. "Entschuldigung, dass wir den
Weltrekord nicht geschafft haben - ich bin schuld", sagte Jon Drummond.
"Nein", widersprachen die anderen unisono und behaupteten: "Ich
bin schuld!" Das Quartett setzte die Show vor den Zuschauern im Stadion
etwas später auch vor den Journalisten bei der Pressekonferenz fort. Jon
Drummond saß dort auf dem Podium neben den anderen drei Sprintern mit
einer Pudelmütze auf dem Kopf und gab auch noch einen ernsthaften
Kommentar: "Wir haben bei den Wechseln sicher noch nicht das allerletzte
gegeben. Aber wir wollten bei dem kühlen Wetter nicht das Risiko eingehen,
uns zu verletzen."
Noch aufgewertet wird die Leistung der Sprinter, wenn man neben der
kühlen Witterung am späten Abend den leichten Wind und die Jahrzehnte
alte Bahn des Berliner Olympiastadions berücksichtigt. Mit einem modernen
Stadionrund hat das schon lange nichts mehr zu tun. Und eigentlich galt diese
Bahn als viel zu weich für Weltspitzenzeiten. Dennoch wurden sie auch
über 100 m gelaufen. Mit ihren Siegen stellten Maurice Greene und Marion
Jones Jahresweltbestleistungen auf und das Finale um den Jackpot der
Golden-League in den Schatten. Nachdem zuvor bereits die
100-m-Hürdensprinterin Gail Devers als Siegerin der Serie festgestanden
hatte, sicherten sich in Abwesenheit der Amerikanerin in Berlin auch noch die
Weitspringerin Tatjana Kotowa (Russland/6,96 m), die Speerwerferin Trine
Hattestad (Norwegen/68,32 m), der 1500-m-Läufer Hicham El Guerrouj
(Marokko/3:30,90 Minuten) und Maurice Greene ihren Anteil an dem mit 50
Kilogramm Gold dotierten Jackpot.
Maurice Greene hatte im 100-m-Lauf für den Höhepunkt des Abends
gesorgt. "Es sah so aus, als ob ich einen schlechten Start gehabt
hätte. Aber das lag daran, dass Jon Drummond einen tollen Start
hatte", sagte Greene, der seinen führenden Konkurrenten etwa nach der
Hälfte des Rennens eingeholt hatte und dann überholte. Am Ende blieb
die Uhr bei 9,86 Sekunden stehen. So schnell ist in Deutschland noch nie jemand
über 100 m gelaufen, so schnell war selbst der große Carl Lewis in
seiner gesamten Karriere nur einmal: 1991, als er in der damaligen
Weltrekordzeit in Tokio Weltmeister wurde. Es gibt bis heute nur sechs
schnellere Zeiten als jene 9,86 Sekunden - und sie wurden alle mit
Rückenwind gelaufen, während Maurice Greene in Berlin einen leichten
Gegenwind von 0,2 Meter in der Sekunde hatte.
Kaum nach stand ihm im Berliner Olympiastadion Marion Jones. Mit 10,78
Sekunden lief auch die 24-Jährige eine 100-m-Zeit, die in Deutschland
bisher einmalig ist. "Ich fühle mich toll nach diesem Lauf. Obwohl es
mir hier in Berlin ein bisschen zu kalt war, ist mir eine solche Zeit
gelungen", sagte Marion Jones, die gut eineinhalb Stunden nach ihrem
100-m-Rennen auch noch eine bis zur 300-m-Marke deutlich zurückliegende
amerikanische 4x100-m-Staffel in 42,95 Sekunden zum Sieg führte. Auch
Marion Jones ist bereit für ihre "Aktion Gold" in Sydney, wo sie
als erste Athletin fünffache Olympiasiegerin werden möchte.
Rechtzeitig vor den Olympischen Spielen scheint auch der Titelverteidiger
Lars Riedel in Form zu kommen. Der Diskuswerfer aus Chemnitz gewann einen
hochklassigen Wettbewerb mit 69,72 m und warf dabei so weit wie seit 1997 nicht
mehr. Um zwei Zentimeter geschlagen war der vermeintliche Olympiafavorit
Virgilijus Alekna (Litauen). "So ein Sieg ist gut für das
Selbstvertrauen. Ich hatte in dieser Saison des öfteren Probleme, deswegen
war jetzt wichtig für mich, dass ich weitgehend beschwerdefrei bin",
sagte Lars Riedel.
Die Mittel- und Langstreckenläufe standen bei diesem ISTAF
ausnahmsweise im Schatten der Sprinter. Das lag auch daran, dass Gabriela Szabo
eine missratene Olympia-Generalprobe erlebte. Viermal in Folge hatte die
Rumänin beim ISTAF zuletzt die 5000 m gewonnen und dabei vor zwei Jahren
mit 14:31,48 Minuten den heute noch gültigen Europarekord aufgestellt.
Dieses Mal wollte sie den Weltrekord von 14:28,09 Minuten angreifen. Doch das
Vorhaben scheiterte frühzeitig, und am Ende musste sich die große
Favoritin sogar im Spurt, der eigentlich ihre Stärke ist, der Kenianerin
Leah Malot (14:39,83 Minuten) geschlagen geben. Die Siegzeit ist allerdings
trotzdem hervorragend.
Bei den Männern sicherte sich Hicham El Guerrouj (Marokko) seinen
Anteil am Jackpot. Über 1500 m lief er erstklassige 3:30,90 Minuten,
verpasste allerdings sein Ziel einer Zeit von 3:28 Minuten oder schneller. Der
neue Langstrecken-Star Ali Saidi-Sief (Algerien) gewann schließlich am
Ende der Veranstaltung, bei kühlen Temperaturen und einem leichten Wind,
die 3000 m in guten 7:30,76 Minuten. Aber auch hier war eine schnellere Zeit
geplant.