Helmut Digel (56) wird nach acht Jahren Amtszeit im März 2001 auf eine
neue Kandidatur für das Amt des Präsidenten des Deutschen
Leichtathletik-Verbandes (DLV) verzichten. Der Leiter des Institutes für
Sportwissenschaften der Universität Tübingen behält jedoch
vorerst seinen Sitz im Council des Welt-Leichtathletik-Verbandes IAAF und
bleibt Vizepräsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) sowie
Präsident des Organisationskomitees der
Leichtathletik-Europameisterschaften in München 2002.Hat sich Ihre Frau
gefreut über Ihren Verzicht? Sie hatten ja vor einigen Monaten
erklärt, Ihre Frau wünsche sich mehr Zeit mit Ihnen. Helmut
Digel: Ja, denn meine Entscheidung hatten wir gemeinsam sehr ausführlich
beraten. Gleichzeitig ist sie jedoch besorgt, da sie Entzugserscheinungen
vermutet ... ... aber es bleiben ja noch ein paar Ämter übrig, und
Sie sprachen auch nur von einer Auszeit. Helmut Digel: Also, es ist schon
so gewesen, dass mich das DLV-Amt jeden Tag beschäftigt hat. Ich habe rund
200 Tage im Jahr für diesen Verband gearbeitet. Das kann man mit der
Arbeit für das NOK gar nicht vergleichen. Aber ich bin mir sicher: Sollte
mir etwas fehlen, werde ich neben meinem Beruf noch eine interessante
ehrenamtliche Tätigkeit finden. Sie hatten unter dem Fall Baumann auch
privat zu leiden - es gab Drohbriefe und anonyme Anrufe. Hat das Ihre jetzige
Entscheidung beeinflusst? Helmut Digel: Indirekt ja. Feiglinge und
Dummköpfe sind mir zuwider. Wenn man über anonyme Briefe mit solchen
Menschen konfrontiert ist, so wird auf diese Weise das Privatleben auf eine
ärgerliche Weise beeinträchtigt. Auf Dauer möchte man so etwas
nicht hinnehmen. Es ist von Flügelkämpfen im DLV die Rede -
entwickelt sich eine Gegenpartei zu Ihnen? Helmut Digel: Ein
Führungswechsel in einem Spitzensportverband ist in der Regel keine
einfache Sache. Flügelkämpfe kann ich allerdings nicht erkennen. Ich
habe im März nächsten Jahres ausgedient, Clemens Prokop wird
vermutlich als neuer Präsident gewählt werden. Für die
Entwicklung von Sportorganisationen kann solch ein Wechsel in vieler Hinsicht
positiv sein. Sie hatten zwar gesagt, nach zwei Amtsperioden sei ein Wechsel
sinnvoll - aber die Entwicklung zu dieser Übergabe dürften Sie sich
anders vorgestellt haben. Helmut Digel: Mit dem letzten Amtsjahr des
DLV-Präsidiums kann kein Mitglied dieses Präsidiums zufrieden sein.
Der Fall Baumann hat die Entwicklung der deutschen Leichtathletik ohne Zweifel
beeinträchtigt, und in wirtschaftlicher Hinsicht ist der Verband mit
Problemen konfrontiert, die nicht ganz einfach zu lösen sind. Deshalb
hätte ich mir gewünscht, dass ich den Verband in einer anderen
Verfassung an einen Nachfolger hätte übergeben können. Einer
der Landesverbands-Präsidenten sagte, man solle einen Kandidaten zum Wohle
der Sache und nicht zum Wohle der jeweiligen Person auswählen und daher
vor allem extern suchen - also eine über den leichtathletik-internen
Bereich hinaus anerkannte Persönlichkeit. Helmut Digel: Inhaltlich und
theoretisch kann ich dieser Aussage voll und ganz zustimmen. In der Praxis hat
sie sich jedoch selbst überholt, denn die Landesverbands-Präsidenten
haben meines Wissens einstimmig Clemens Prokop als Kandidat für meine
Nachfolge vorgeschlagen. Es wurde über Gründe Ihres Verzichtes
spekuliert. Einer ist der Fall Baumann, ein anderer, dass eine von Ihnen
gewünschte Strukturreform bei der letzten Präsidiumssitzung keine
Mehrheit fand. Es soll auch ein Modell gewesen sein, dass es zwischen Ihnen und
Herrn Prokop eine Art fließenden Übergang gibt. Helmut Digel:
Der Fall Baumann hat für meinen Verzicht keine Rolle gespielt. Eher, das
sei noch einmal betont, war das Gegenteil der Fall. Gerade wegen dieses Falles
war es mein Wunsch, nicht zu einem Zeitpunkt aufzuhören, zu dem viele
Dinge unverrichtet sind. Und gerade deshalb wollte ich einen fließenden
Übergang nach zwei Jahren erreichen. Dem wurde, aus welchen Gründen
auch immer, nicht entsprochen, und so war mein Entschluss naheliegend. Was die
Strukturreform betrifft, so habe ich in den Präsidiumssitzungen in diesem
Jahr immer wieder darauf hingewiesen, dass die Reform der Strukturen keine
Veränderungen herbeiführt, wenn man nicht gleichzeitig eine personale
Reform durchsetzt. Im übrigen ist der Vorschlag, der nunmehr zur
Diskussion steht - Verkleinerung des Präsidiums, Mitbestimmung der
Athleten -, ein Vorschlag, der ganz wesentlich auf mich selbst
zurückzuführen ist. Haben Sie keine Chance mehr gesehen, Ihre
Ziele umzusetzen? Helmut Digel: Das Präsidium hat gemeinsam mit mir
eine ganze Reihe von wichtigen Zielen umgesetzt und damit auch
Veränderungen herbeigeführt, die für die deutsche Leichtathletik
zwingend erforderlich gewesen sind. Einige Ziele konnten jedoch nicht erreicht
werden. Dies gilt vor allem für die Reform der Gehaltsstrukturen in der
Hauptamtlichkeit, und eine ausreichende personelle Erneuerung innerhalb der
Haupt- und Ehrenamtlichkeit ist ebenfalls nur bedingt erreicht worden. Ich
hoffe, dass mein Nachfolger dieses Ziel nicht aus den Augen lässt, es wird
für die Zukunft der Leichtathletik von grundlegender Bedeutung sein.
Sie haben davon gesprochen, Erfahrungen gemacht zu haben, die Ihnen eine
Auszeit nahe legen - der Fall Baumann dürfte dazu gehören? Helmut
Digel: Dies ist zutreffend. Das Verfahren, das das IAAF-Schiedsgericht gegen
den DLV in Sydney durchgeführt hat, empört mich nach wie vor. Ich
kann mich dabei auf das gutachterliche Urteil einer ganzen Reihe von
juristischen Experten stützen, und ich gehe auch weiterhin davon aus, dass
die Rechtsauffassung der IAAF auf Dauer nicht haltbar sein wird. Wichtiger
jedoch waren andere Erfahrungen. Dazu gehören vor allem die
unüberschaubaren Tendenzen zum Medikamentenmissbrauch im
Hochleistungssport, die weltweit anzutreffen sind, und die nur höchst
unzureichend bekämpft werden. Gibt es eine Art Resignation, weil das
Dopingproblem nicht in den Griff zu bekommen ist und ein konsequenter Kampf
dagegen möglicherweise in ein für den Athleten juristisch unfaires
Verfahren münden kann? Und gibt es zudem eine Resignation, weil es immer
schwerer wird, professionelle Leichtathletik zu gestalten und dabei die
Verbindung zur ehrenamtlichen und breitensportlichen Basis zu erhalten?
Helmut Digel: Nein, ich habe nicht resigniert, und es gibt auch keine
Alternative, als konsequent gegen Doping zu kämpfen. Dies kann man als
Sportwissenschaftler ebenso tun wie auch in meiner Funktion, die ich
darüber hinaus in den verschiedensten Organisationen des Sportes auch
weiterhin ausüben werde. Eine gute zukünftige Entwicklung der
Leichtathletik wird gewiss kein Selbstläufer sein. Hier bedarf es bereits
heute entscheidender Interventionen. Vor allem bei der Nachwuchsfrage und
für die schulische Leichtathletik. Es geht aber auch um die
zukünftigen ökonomischen Möglichkeiten eines
Spitzenfachverbandes. Für mich ist es in der Tat sehr besorgniserregend,
wenn man sieht, dass nur wenige sich um diese Interventionen bemühen.