In Kooperation mit RUNNER’S WORLD erscheint hier jeden Monat ein gekürzter Beitrag aus dem aktuellen Heft.
Wussten Sie, dass das Verlangen nach Süßigkeiten und die Lust am Laufen sehr viel gemeinsam haben. Es geht um eine der geheimnisvollsten und entwicklungsgeschichtlich ältesten hormonähnlichen Stoffgruppen des menschlichen Körpers: die Endorphine. Ihren Namen erhielten die Endorphine durch ihre verblüffende Ähnlichkeit mit dem Rauschgift Morphin (endo = griech. innen, innerlich). Verblüffenderweise produziert jeder Mensch im eigenen Körper Endorphine, die fast ebenso wirken wie die Drogen Morphin oder Heroin.
Hohe Blutkonzentrationen von Endorphinen findet man nach körperlichen Extremsituationen, wie zum Beispiel nach dem Bungee-Jumping oder dem Extrem-Bergsteigen. Aber auch beim Hören von Musik oder einem guten Essen werden Endorphine freigesetzt. In Schokolade sind sogar Substanzen enthalten, die den Endorphinen chemisch sehr ähnlich sind. Vor allem der Verzehr von Bitterschokolade erhöht den Endorphin-Spiegel beträchtlich. Bei Frauen, die ein Kind auf die Welt bringen, finden sich besonders hohe Konzentrationen von Endorphinen. Auch die Wirkung der chinesischen Akupunktur scheint teilweise auf die Stimulation der Endorphine zurückzuführen zu sein.
Der Laufbesessene
Auch beim Laufen werden Endorphine freigesetzt. Vielleicht sind auch Sie bereits einmal in die Regionen vorgestoßen, die man als „Runner‘s High“ bezeichnet. Bei langsamem Lauftempo kommt es nämlich nach etwa einer Stunde zu einer deutlichen Erhöhung der Endorphinkonzentration im Körper, die mit dem entsprechenden Wohlgefühl verbunden sein kann. Gut dokumentiert sind die Wirkungen der Endorphine beim Laufen durch Untersuchungen mit der Verabreichung eines Gegengiftes gegen das Morphin. Dieses Gegengift namens „Naloxon“ hemmt auch die Wirkung der Endorphine. Die angenehme Stimmung nach einem Dauerlauf ist sofort wie weggeblasen, wenn Naloxon verabreicht wird.
Das Wohlgefühl durch Endorphine entsteht jedoch nicht nur bei langsamen und langen Läufen. Vor allem kurze, intensive Läufe steigern deutlich die Endorphinbildung. Je höher die Übersäuerung ansteigt, desto höher steigt auch die Endorphinbildung an. Sie kennen sicherlich den Läufertyp, der nur Spaß am Training findet, wenn er nicht langsam läuft. Bei aller trainingsmethodischer Vernunft lässt sich bei einer solchen Lust am „Bolzen“ keine langfristige Leistungssteigerung erzielen. Eine solche „Freude am Untergang“, die fehlende Einsicht, wann es genug ist, könnte vielleicht im Zusammenhang mit der Endorphinwirkung stehen. Allerdings ist es der Wissenschaft bisher noch nicht gelungen, echte Beweise für das Vorhandensein einer solchen „Endorphinsucht“ zu finden. Für die geschilderte Trainingseinstellung könnten ebensogut psychosoziale Gründe die Ursache sein.
Aller Anfang ist schwer
Aus wissenschaftlicher Sicht wird in Frage gestellt, ob eine Laufsucht tatsächlich auf die Wirkung der Endorphine zurückzuführen ist. Obwohl nämlich das künstliche Morphin eine ausgeprägte suchtauslösende Wirkung hat, ist das Suchtpotential der körpereigenen Endorphine deutlich geringer. Der Grund liegt darin, dass en hat bereits erlebt, dass das Laufen keineswegs bereits vom ersten Tag an angenehme Gefühle mit sich bringt. Die Begründung für diese Tatsache könnte durchaus bei den Endorphinen liegen. Die Produktion der Endorphine setzt sich nämlich keinesfalls sofort mit dem Einstieg in den Laufsport mit voller Intensität in Gang. Erst im Verlaufe von mindestens zwei Monaten Training findet man bei zunächst Untrainierten eine Erhöhung der Endorphinkonzentration im Blut.
Hochinteressant ist in diesem Zusammenhang eine Untersuchung von McCubbin (1992), die zeigt, dass viele trainingsbedingte Veränderungen zu einem Teil auf die Wirkung von Endorphinen zurückzuführen sein könnten. Die Herzfrequenzsenkung und ein niedrigerer Blutdruck bei Belastung gegenüber Untrainierten konnte nämlich mit Naloxon, dem Morphin-Gegenmittel, wieder rückgängig gemacht werden. Man zog daraus den Schluss, dass die Fähigkeit zur Endorphinbildung einer der Faktoren für die Fitnessanpassungen sein müsse. Andererseits könnte hierin auch eine Begründung dafür liegen, dass die Lust am Laufen von Anfängern und Gelegenheitsläufern so schlecht nachempfunden werden kann.
Dr. med. Kai Röcker