Als Uta Pippig in der Nähe des Wilden Ebers stand, um als
Schlussläuferin der UNICEF-Staffel die letzten sieben Kilometer des real,-
BERLIN-MARATHON zu laufen, war Naoko Takahashi schon an ihr vorbei gerannt.
Noch stand nicht fest, ob die Japanerin tatsächlich die erste Zeit unter
2:20 Stunden würde laufen können. „Ich drücke ihr die
Daumen, dass sie es schafft“, sagte Uta Pippig, die dreimal den
BERLIN-MARATHON gewonnen hatte. Auf der Tauentzienstraße wartete
währenddessen Takahashis Landsmann Hiroaki Chosa, der gemeinsam mit
Innenminister Otto Schily das Zielband hielt, auf seine Landsfrau. Chosa ist
der Präsident der internationalen Straßenlaufvereinigung AIMS. Und
jener Chosa hatte schon vor zwei Jahren zu Berliner Marathonchef Horst Milde
gesagt: „In zwei Jahren werde ich in Berlin sein, und Naoko Takahashi
wird kommen, um den Weltrekord zu brechen.“ Er sollte recht behalten.
Lediglich auf den ersten fünf Kilometern hatte Naoko Takahashi aufgrund
eines leichten Gegenwindes außerhalb ihrer Marschtabelle, die sie auf ein
Ergebnis von unter 2:20 Stunden führte, gelegen. „Da war ich
aufgrund des Windes etwas besorgt, aber danach hatte ich keine Probleme mehr
und war mir sicher, dass ich die Zeit erreiche“, sagte Naoko Takahashi,
die während des Rennens auch von sogenannten „Guard Runners“
profitierte. Diese sie seitlich begeleitenden Läufer hatte der
Veranstalter als Schutz in dem Massenrennen zur Verfügung gestellt. Das
war durchaus sinnvoll. Denn zumindest einmal musste einer der Begleiter einen
Läufer wegschubsen. Dieser hatte, vielleicht um in das TV-Bild zu
gelangen, versucht, neben Naoko Takahashi zu gelangen. Viel
gleichmäßiger als Tegla Loroupe bei ihrer Weltbestzeit vor zwei
Jahren lief Naoko Takahashi in Berlin. Und zeitweilig schien sogar eine Zeit
von unter 2:19 Stunden möglich. „Ich bin enttäuscht, dass sie
nicht 2:16 Stunden gelaufen ist“, sagte ihr Trainer Yoshio Koide. Doch
einen echten Grund enttäuscht zu sein, gab es natürlich nicht. Erst
auf den letzten Kilometern war Naoko Takahashi langsamer geworden. „Da
fehlte mir dann die Kraft, aber ich sah die Zwischenzeit und wusste, dass ich
es schaffen würde.“
Im Sog des enormen Erfolges erreichte der live nach Japan übertragene
Fernsehsender Fuji-TV Einschaltquoten von über 50 Prozent. Derart
populär ist Naoko Takahashi in ihrer Heimat, dass sie nach ihrem
Olympiasieg auch als Comicfigur Karriere machte. Das Magazin „Young
Sunday“ dürfte nun neue Auflagenrekorde erzielen. Das mit drei
Redakteuren beim real,- BERLIN-MARATHON vertretene Magazin rechnet mit deutlich
mehr als dem normalen Wochenverkauf von 700.000 Stück. Als
„Kazekko“ (Tochter des Windes) wird Naoko Takahashi in „Young
Sunday“ dargestellt. Doch nachdem sie gestern das Ziel in Berlin erreicht
hatte, wurde bei der Pressekonferenz ein neuer Name vorgeschlagen: Tochter des
Taifuns.
Befragt nach weiteren Zielen und möglichen Steigerungen, sagte die
29-jährige Naoko Takahashi. „Ich denke, ich könnte vielleicht
noch ein bis zwei Minuten schneller laufen. Ich bin jetzt Olympiasiegerin und
Weltrekordlerin – jetzt werde ich mir neue Ziele setzen, aber ich
weiß noch nicht welche.“ Vier Monate lang trainierte sie zuletzt in
der Höhenluft von Boulder (Colorado). „Über wöchentliche
Trainingsumfänge kann ich nichts sagen, denn wir zählen nicht die
wöchentlichen Kilometer zusammen. Die höchsten Umfänge eines
einzelnen Tages beliefen sich auf 70 bis 80 Kilometer. Besonders hart war das
Training in 3500 Metern Höhe.“
Schon am Montag folgte für Naoko Takahashi die nächste Ehrung in
Berlin: Die Vertreter von AIMS wählten sie zur Läuferin des Jahres
2000. Dafür bekam Naoko Takahashi den Goldenen Schuh. Diese Trophäe
hatte zuletzt Tegla Loroupe gewonnen. Es spricht alles dafür, dass Naoko
Takahashi auch für das Jahr 2001 den Goldenen Schuh bekommt.
Die 29-Jährige hatte einst auf der Oberschule mit dem Laufsport
begonnen und sich dann auch einem Verein angeschlossen. Den ersten ihrer bisher
erst sechs Marathonläufe rannte Naoko Takahashi 1997 in Osaka, wo sie als
Siebente in 2:31:32 Stunden ins Ziel kam. Knapp zwei Jahre später feierte
sie einen ersten großen Sieg, der weltweit in der Leichtathletikszene
für Aufsehen sorgte. So erstaunlich war ihre Leistung, dass es einige
anfangs gar nicht glauben wollten. Experten sprachen jedoch vom wohl besten
Marathonlauf einer Frau überhaupt. In 2:21:47 Stunden hatte Naoko
Takahashi damals bei den Asienspielen den Titel gewonnen. Das ist die
siebtbeste Zeit aller Zeiten. Doch es waren die Umstände, die das Ergebnis
noch höherwertiger machten. Denn die 1,63 m große und 47 Kilogramm
wiegende Japanerin hatte diese Zeit in einem Solorennen in Bangkok erzielt, bei
hohen Temperaturen und einer hohen Luftfeuchtigkeit.
In Sydney 2000 war Naoko Takahashi wieder die Nummer eins. Und dieser
Triumph hob sie im marathon-verrückten Japan auf einen Thron. Seit ihrem
Olympiasieg gehört Naoko Takahashi zu den populärsten
Persönlichkeiten in Japan. „Die Japaner lieben die Olympischen
Spiele. Und nachdem ich gewonnen hatte, gab es viele Auftritte,
Autogrammstunden und Foto-Sessions. Mein Leben hat sich verändert, aber
ich als Person habe mich nicht verändert“, sagt Naoko Takahashi, die
als freundliche und humorvolle Athletin gilt. „Ich weiß auch nicht,
warum Marathon in Japan so populär ist. Aber die TV-Einschaltquoten sind
immer gut – irgendetwas macht uns marathon-verrückt.“
Trotz ihrer enormen Popularität kann Naoko Takahashi ohne Probleme auf
die Straße gehen oder zum einkaufen. „Manchmal setze ich allerdings
eine Sonnenbrille auf, verstecke mich dahinter und denke, das ist perfekt. Aber
mein Manager hat mir gesagt: Jeder Japaner würde mich leicht
erkennen.“