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Was wäre die deutsche Laufszene ohne Dieter Baumann?

Ein Trauerspiel in mehreren Akten - Ernüchterung pur beim Blick auf die

Laufszene bei den Deutschen Meisterschaften in Ulm

Als Rüdiger Nickel, der Leistungschef des Deutschen

Leichtathletik-Verbandes (DLV), nach Abschluss der beiden Meisterschaftstage im

Ulmer Donaustadion eine Bilanz zog und dabei sein “Es sind

Hoffnungsschimmer da“ formulierte, da mag er vielleicht an die Hanniske,

Winter, Otto gedacht haben, die neben den Etablierten wie Baumann, Lobinger,

Henry, Nerius und Schultz eine Marke auf der Sonnenterasse gesetzt haben.

Wohlweislich deckte Nickel aber über den Bereich Lauf den Mantel des

Schweigens, denn ansonsten hätte es Kritik pur geben müssen. Denn auf

den Strecken zwischen 800 m und 5000 m herrschte mit kleinen Abstrichen die

blanke Tristesse vor. Einem René Herms darf man gewiss keinen Vorwurf

machen, wenn der junge Mann aus Pirna es bei einem souverän

herausgelaufenen 800 m-Sieg in 1:47,62 beließ, denn die kommenden Wochen

mit U 23-EM und WM werden hart genug. Zumal auch eine gewisse Erwartungshaltung

auf der traditionell erfolgreichen 800 m-Strecke liegt, vor allem dann, wenn

man in den Annalen so erfolgreiche Läufer wie Harbig, Matuschewski, Beyer,

Kemper, Wülbeck oder Schumann findet....

Einem Dieter Baumann noch viel weniger, wenn die Ergebnisliste eine 13:41,22

ausweist. “Ich habe ein beinhartes Rennen erwartet“, sagte er im

Siegerinterview. Nicht nur der inzwischen 38jährige Tübinger, sondern

auch die Fachleute hatten einen Generalangriff der “jungen Wilden“

wie Jan Fitschen, Mario Kröckert und Michael May erwartet. Doch denkste.

Als Dieter Baumann nach zwei Kilometern einen Tick schneller lief, hatten die

vermeintlichen WM-Kandidaten schon einen hochroten Kopf und schnappten nach

Luft. Ausgelaugt und müde kamen sie nach vierzehn Minuten Laufzeit ins

Ziel. Gedemütigt, deprimiert. Wer noch im Vorfeld der Titelkämpfe mit

einem Leistungsnachweis in Richtung WM-Norm geliebäugelt hatte, der wurde

hart auf den Boden der Tatsachen zurückgeführt. Fitschen hatte zwar

im Winter mit seinem Hallensieg über Baumann ein erstes Signal gesetzt,

doch dabei ist es im Duell mit dem Vorzeigeläufer der Nation geblieben. In

Kassel wußte der Wattenscheider mit einer 13:26 zwar zu überzeugen,

doch von diesem Leistungsniveau war er in Ulm weit entfernt.

Wenn Mario Kröckert im Ziel über Rang zwei jubelte (“mit

Silber bin ich vollauf zufrieden“), dann sollte sich der junge

Leverkusener aber an seinen eigenen (hohen) Ansprüchen messen lassen. Wenn

ein Dieter Baumann im Herbst seines (Bahn-)Leistungshorizonts den Blick auf

seinen Marathonstart in New York gerichtet hat, sollte der Olympiasieger von

1992 nicht mehr als Maßstab gelten. Denn auf der Bahn zählt Baumann

nicht mehr zur Weltspitze, vor allem nicht auf der (zu kurzen) 5000 m-Distanz.

Zwar wollte Dieter Baumann seine vermeintlichen Nachfolger nicht zu harsch

kritisieren, doch zwischen den Zeilen schrieb er ihnen samt der Trainerschaft

einiges ins Stammbuch.

Weitaus schlechter sieht es bei den Frauen aus. Eine Sabrina Mockenhaupt

spazierte in 15:51,73 über die zwölfeinhalb Runden, die Konkurrenz

mit Birte Bultmann an der Spitze lag fünfzig Sekunden und mehr

zurück. Zwar fehlte mit Irina Mikitenko zugegebenermaßen unsere

beste Läuferin, doch die gebürtige Kasachin liebäugelt

längst schon mit der Marathondistanz. Eine im Kampfgetümmel beim

Europacup erlittenen Muskelprellung könnte für die Frankfurterin

sogar das WM-Aus bedeuten, denn die Normhürde ist selbst für eine

WM-Fünfte sehr hoch.... Ulrike Maisch gab aus Krankheitsgründen

früh auf, Susanne Ritter nur ein Zerrbild der vergangenen Saison –

es sieht fürwahr nicht gut aus. Durch den Ausfall der wegen Krankheit

fehlenden Melanie Schulz ist die Hindernisstrecke derart ausgedünnt, dass

Katrin Engelen noch mit einer 10:34,13 letztlich zum Sieg kam.

Die männliche Abteilung Hindernis lieferte ein gewiss spannendes Rennen

ab, das mit Christian Knoblich einen echten Überraschungssieger brachte.

Den Fürther hatte gewiß kaum einer auf der Rechnung, doch

“Knobi“ hatte den härtesten Kick auf der Zielgeraden gegen

Titelverteidiger Philmon Ghirmai, Ex-Europameister Damian Kallabis,

während der Mitfavorit Ralf Aßmus nach einem Sturz schon aus dem

Rennen war. Alleiniger Nutznießer um das WM-Ticket ist vermutlich hier

Philmon Ghirmai, der drei Tage vor den Meisterschaften zuvor in Luzern mit

8:20,50 die WM-Norm abliefern konnte, aber im Donaustadion noch nicht wieder

spritzig genug wirkte, um das Rennen wie in Wattenscheid im Vorjahr zu seinen

Gunsten entscheiden zu können. Mit Raphael Schäfer und dessen

Rehlinger Christian Klein kündet sich weitere leistungsstarke Konkurrenz

für die kommenden Jahre an.

Zwei typische Meisterschaftsrennen lieferten die 1500 m-Läufer ab. Mit

Franek Haschke und Kathleen Friedrich gewannen die erklärten Favoriten,

doch über die Endzeiten von 3:49,97 bzw. 4:21,86 sollte schnellstens der

Mantel des Schweigens gelegt werden. Hier hat nur der Sieger recht ... Wann ist

man/ frau mit 3:50,40 bzw. 4:26,39 schon einmal Vizemeister geworden?

Bleibt noch ein Wort zur 800 m-Entscheidung der Frauen. Hier setzte sich mit

Claudia Gesell die Jahresbeste gekonnt gegen die couragiert laufende Monika

Gratzki durch, die WM-Norm haben aber beide noch nicht. Während es

für die Europacup-Siegerin aus Leverkusen eher nur eine Formsache sein

sollte, muss sich Monika Gratzki trotz ihrer feinen 2:01,27 noch einmal um mehr

als eine Sekunde steigern. Im Gegensatz zu den Männern, wo Altmeister Nico

Motchebon Vizemeister (!) wurde, drängt hier die Jugend doch nachhaltig

nach vorne.

Wilfried Raatz

 

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