Nach 2:20:57 Stunden war Paula Radcliffe am Ziel. Zwölf Jahre lang hatte sie davon geträumt. Zum ersten Mal in ihrer Karriere gewann die 31-jährige Engländerin nun eine Goldmedaille bei einem interkontinentalen Saisonhöhepunkt. Bei der Cross- und der Halbmarathon-WM hatte sie schon mehrfach Gold gewonnen, doch immer wenn es im Sommer bei Olympia oder den Weltmeisterschaften darauf an kam, hatte die Siegerin nicht Paula Radcliffe geheißen. Zehnmal stand sie bei Olympischen Spielen oder einer WM in einem Finale, angefangen bei den Titelkämpfen in Stuttgart 1993. Nur einmal gewann sie überhaupt eine Medaille, bei der WM 1999 über 10.000 Meter.
Keine Tränen mehr
Im Olympiastadion von Helsinki endete nun diese Serie von Misserfolgen und Tränen im elften Anlauf. Noch acht Tage zuvor war Paula Radcliffe überraschend auch das 10.000-m-Finale gelaufen. Einmal mehr hatte sie dabei einsehen müssen, dass ihre Geschwindigkeit über die Bahn-Langstrecken im Kampf gegen die Äthiopierinnen nicht mehr ausreicht, um eine Medaille zu gewinnen. Paula Radcliffe wurde Neunte, nachdem sie wie in vielen Finals zuvor lange Zeit die Führungsarbeit geleistet hatte.
Doch im Gegensatz zu früher war dieses 10.000-m-Rennen für Paula Radcliffe keine echte Enttäuschung. „Ich habe dieses Finale lediglich als letztes Schnelligkeitstraining für den Marathon genutzt. Ich konzentriere mich auf das klassische Rennen“, hatte Paula Radcliffe gesagt.
Wie bei der Tour de France
Angefeuert von vielen britischen Zuschauern an der Strecke bestimmte die 10.000-m-Europarekordlerin (30:01,09 Minuten) von Beginn an das Tempo im Marathon. „Ich bin froh, das war ein wichtiger Sieg für mich. Ich wusste, dass ich ein gutes Tempo hatte, das ich nur durchhalten musste bis zum Ende“, erklärte Paula Radcliffe. Von Beginn an hatte sie bei angenehmen Lauftemperaturen für Tempo gesorgt und sich an die Spitze gesetzt. Die Zwischenzeiten waren für ein Meisterschaftsrennen ungewöhnlich schnell: Nach 33:23 Minuten passierte sie die 10-km-Marke, nach 1:09:49 Stunden war Paula Radcliffe am Halbmarathon. Doch erst zwischen Kilometer 25 und 30 löste sie sich entscheidend von ihren Konkurrentinnen und vergrößerte dann den Vorsprung ständig. Am Ende siegte sie mit der WM-Rekordzeit von 2:20:57 Stunden und hatte einen Vorsprung von 64 Sekunden auf die Titelverteidigerin Catherine Ndereba (Kenia). Dritte wurde in einem sehr schnellen Rennen die Rumänin Constantina Tomescu in 2:23:19.
Bittere Enttäuschung
„Es war nicht leicht, aber ich habe dieses Rennen auch ein bisschen genießen können – die Unterstützung der Zuschauer war prima. Letztes Jahr hatte ich im Vorfeld der Olympischen Spiele eine Reihe von Problemen. Dieses Mal habe ich aufgepasst, dass ich gesund und konzentriert nach Helsinki komme“, erklärte Paula Radcliffe. Vor einem Jahr war sie eine Welt zusammengebrochen. Bei den Olympischen Spielen von Athen war die Marathon-Weltrekordlerin (2:15:25 Stunden) als große Favoritin an den Start gegangen. Doch bei brütender Hitze verpasste Paula Radcliffe einmal mehr ihr goldenes Ziel – statt dessen gab sie auf. Bei Kilometer 36 saß Paula Radcliffe damals weinend am Straßenrand, während die Japanerin Mizuki Noguchi zum größten Triumph ihrer Karriere rannte. Damit war das olympische Drama von Paula Radcliffe jedoch noch nicht beendet. Nur sechs Tage später stellte sie sich erneut, im 10.000-m-Finale. Auch hier gab sie auf. Doch Paula Radcliffe kämpfte sich nach diesem sportlichen Ko-Schlag zurück. Nur gut zwei Monate nach der Olympia-Pleite meldete sie sich mit einem Sieg beim New-York-Marathon zurück. Und im April gewann sie den London-Marathon in 2:17:42 Stunden. Nur sie selbst ist jemals schneller gewesen.